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Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Doch die Stunde drängt -- ich eile zum Schluß. Um die letzterzählten Vorgänge, die mir selbst damals ziemlich dunkel erschienen, zu erklären, muß ich bemerken, daß in früheren Jahren der Major von Halden seinem Schwager, mit dem er sonst nicht sonderlich harmonirte, ein nicht unbedeutendes Capital geliehen hatte, um demselben das durch Kriegsereignisse und Mißwachs überschuldete Gut zu erhalten. Außer den beiden Männern wußte Niemand von jenem Darlehn; insbesondere mit seiner Tochter pflegte der Major nie über seine Geldangelegenheiten zu sprechen. Als er 1807 seinen Abschied genommen, verbrauchte er in den folgenden Jahren trotz seiner mäßigen Lebensweise den Rest seines Vermögens, so daß ihm bei seiner Abreise nach Rußland nur jenes Capital blieb, über welches ihm der Amtmann einen bereits mehrmals Prolongirten Wechsel ausgestellt hatte. Er glaubte es vor der Hand noch bei demselben am besten aufgehoben. Nur ungern bestimmte der Major für die Dauer seiner Abwesenheit das Haus seines Schwagers zum Asyl der zurückbleibenden Tochter. Weit lieber hätte er dieselbe seinem Freunde, dem Baron, anvertraut; da er jedoch die gefahrvolle Lage des Letzteren kannte und sonst keinen passenden Aufenthalt wußte, entschloß er sich zu jener Wahl. Als der Amtmann die Nachricht von dem Tode des Majors erhielt, fand er es nicht passend, mit der tiefgebeugten Waise über Geldangelegenheiten zu reden; er erwähnte daher nichts über jenes Darlehn und ließ sie in dem Glauben, daß ihr Vater kein Vermögen hinterlassen habe. Auch später schien ihm noch immer nicht der passende Augenblick für die betreffende Mittheilung gekommen zu sein, und er gewöhnte sich immer mehr an den Gedanken, daß es am besten sei, das Capital überhaupt nicht zurückzuzahlen. Bei fernerer Ueberlegung fand er, daß sich jene seine Lieblingsidee mit den Pflichten gegen seine Nichte durch seine eheliche Verbindung mit dieser am leichtesten und angenehmsten

Doch die Stunde drängt — ich eile zum Schluß. Um die letzterzählten Vorgänge, die mir selbst damals ziemlich dunkel erschienen, zu erklären, muß ich bemerken, daß in früheren Jahren der Major von Halden seinem Schwager, mit dem er sonst nicht sonderlich harmonirte, ein nicht unbedeutendes Capital geliehen hatte, um demselben das durch Kriegsereignisse und Mißwachs überschuldete Gut zu erhalten. Außer den beiden Männern wußte Niemand von jenem Darlehn; insbesondere mit seiner Tochter pflegte der Major nie über seine Geldangelegenheiten zu sprechen. Als er 1807 seinen Abschied genommen, verbrauchte er in den folgenden Jahren trotz seiner mäßigen Lebensweise den Rest seines Vermögens, so daß ihm bei seiner Abreise nach Rußland nur jenes Capital blieb, über welches ihm der Amtmann einen bereits mehrmals Prolongirten Wechsel ausgestellt hatte. Er glaubte es vor der Hand noch bei demselben am besten aufgehoben. Nur ungern bestimmte der Major für die Dauer seiner Abwesenheit das Haus seines Schwagers zum Asyl der zurückbleibenden Tochter. Weit lieber hätte er dieselbe seinem Freunde, dem Baron, anvertraut; da er jedoch die gefahrvolle Lage des Letzteren kannte und sonst keinen passenden Aufenthalt wußte, entschloß er sich zu jener Wahl. Als der Amtmann die Nachricht von dem Tode des Majors erhielt, fand er es nicht passend, mit der tiefgebeugten Waise über Geldangelegenheiten zu reden; er erwähnte daher nichts über jenes Darlehn und ließ sie in dem Glauben, daß ihr Vater kein Vermögen hinterlassen habe. Auch später schien ihm noch immer nicht der passende Augenblick für die betreffende Mittheilung gekommen zu sein, und er gewöhnte sich immer mehr an den Gedanken, daß es am besten sei, das Capital überhaupt nicht zurückzuzahlen. Bei fernerer Ueberlegung fand er, daß sich jene seine Lieblingsidee mit den Pflichten gegen seine Nichte durch seine eheliche Verbindung mit dieser am leichtesten und angenehmsten

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[0073] Doch die Stunde drängt — ich eile zum Schluß. Um die letzterzählten Vorgänge, die mir selbst damals ziemlich dunkel erschienen, zu erklären, muß ich bemerken, daß in früheren Jahren der Major von Halden seinem Schwager, mit dem er sonst nicht sonderlich harmonirte, ein nicht unbedeutendes Capital geliehen hatte, um demselben das durch Kriegsereignisse und Mißwachs überschuldete Gut zu erhalten. Außer den beiden Männern wußte Niemand von jenem Darlehn; insbesondere mit seiner Tochter pflegte der Major nie über seine Geldangelegenheiten zu sprechen. Als er 1807 seinen Abschied genommen, verbrauchte er in den folgenden Jahren trotz seiner mäßigen Lebensweise den Rest seines Vermögens, so daß ihm bei seiner Abreise nach Rußland nur jenes Capital blieb, über welches ihm der Amtmann einen bereits mehrmals Prolongirten Wechsel ausgestellt hatte. Er glaubte es vor der Hand noch bei demselben am besten aufgehoben. Nur ungern bestimmte der Major für die Dauer seiner Abwesenheit das Haus seines Schwagers zum Asyl der zurückbleibenden Tochter. Weit lieber hätte er dieselbe seinem Freunde, dem Baron, anvertraut; da er jedoch die gefahrvolle Lage des Letzteren kannte und sonst keinen passenden Aufenthalt wußte, entschloß er sich zu jener Wahl. Als der Amtmann die Nachricht von dem Tode des Majors erhielt, fand er es nicht passend, mit der tiefgebeugten Waise über Geldangelegenheiten zu reden; er erwähnte daher nichts über jenes Darlehn und ließ sie in dem Glauben, daß ihr Vater kein Vermögen hinterlassen habe. Auch später schien ihm noch immer nicht der passende Augenblick für die betreffende Mittheilung gekommen zu sein, und er gewöhnte sich immer mehr an den Gedanken, daß es am besten sei, das Capital überhaupt nicht zurückzuzahlen. Bei fernerer Ueberlegung fand er, daß sich jene seine Lieblingsidee mit den Pflichten gegen seine Nichte durch seine eheliche Verbindung mit dieser am leichtesten und angenehmsten

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Zitationshilfe: Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andolt_nacht_1910/73>, abgerufen am 29.03.2024.