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Alexis, Willibald: Herr von Sacken. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–202. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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-- Er hatte bis da genaue Zeitrechnung gehalten und wußte bestimmt, daß er schon über sechs Monate unterweges war. Von jetzt an ward er an dem Kalender irre, denn seine Krankheitszufälle erneuerten sich, ohne doch bedenklich zu werden. Auch wußte er nicht mehr, in welchen Gegenden er sich befand. Er glaubte bis da, als tüchtiger Geograph, den Strich der Reise im Allgemeinen genau verfolgt zu haben. Die Völkerschaften, die Producte der Länder, wie die Himmelszeichen verwirrten sich; aber er hatte auch nicht mehr wie früher darauf Acht. Er wußte nur, daß man, wahrscheinlich um seine Qual zu steigern, ihn auf dem längsten Wege nach dem Ort seiner Bestimmung führte. Ihm war es gleichgültig geworden, denn er beschäftigte sich mit sich selbst. Seine Zukunft war einförmig; bewegter die Vergangenheit, auf die er zurückblickte; und je ernster er das Auge darauf richtete, um so unzufriedener ward er mit sich. Wie anders sah er in dem dunkeln Wagen Vieles an, wie vordem, als das Licht der Sonne, der Schatten der Verhältnisse darauf fiel. Wie Vielen hatte er Unrecht gethan, wie oft aus ungegründetem Argwohn Andern und sich geschadet. Warum hatte er den Handlungen seiner Nebenmenschen immer die unlautersten Beweggründe untergelegt; und wenn er darin richtig geblickt, wer gab ihm ein Recht, auf die Motive allein zu sehen, und nicht auf die Wirkung, auf die That, wie sie geworden. Wie Vieles hatte er danach zu bereuen, um wie viel milder beurtheilte er die, welche

— Er hatte bis da genaue Zeitrechnung gehalten und wußte bestimmt, daß er schon über sechs Monate unterweges war. Von jetzt an ward er an dem Kalender irre, denn seine Krankheitszufälle erneuerten sich, ohne doch bedenklich zu werden. Auch wußte er nicht mehr, in welchen Gegenden er sich befand. Er glaubte bis da, als tüchtiger Geograph, den Strich der Reise im Allgemeinen genau verfolgt zu haben. Die Völkerschaften, die Producte der Länder, wie die Himmelszeichen verwirrten sich; aber er hatte auch nicht mehr wie früher darauf Acht. Er wußte nur, daß man, wahrscheinlich um seine Qual zu steigern, ihn auf dem längsten Wege nach dem Ort seiner Bestimmung führte. Ihm war es gleichgültig geworden, denn er beschäftigte sich mit sich selbst. Seine Zukunft war einförmig; bewegter die Vergangenheit, auf die er zurückblickte; und je ernster er das Auge darauf richtete, um so unzufriedener ward er mit sich. Wie anders sah er in dem dunkeln Wagen Vieles an, wie vordem, als das Licht der Sonne, der Schatten der Verhältnisse darauf fiel. Wie Vielen hatte er Unrecht gethan, wie oft aus ungegründetem Argwohn Andern und sich geschadet. Warum hatte er den Handlungen seiner Nebenmenschen immer die unlautersten Beweggründe untergelegt; und wenn er darin richtig geblickt, wer gab ihm ein Recht, auf die Motive allein zu sehen, und nicht auf die Wirkung, auf die That, wie sie geworden. Wie Vieles hatte er danach zu bereuen, um wie viel milder beurtheilte er die, welche

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[0099] — Er hatte bis da genaue Zeitrechnung gehalten und wußte bestimmt, daß er schon über sechs Monate unterweges war. Von jetzt an ward er an dem Kalender irre, denn seine Krankheitszufälle erneuerten sich, ohne doch bedenklich zu werden. Auch wußte er nicht mehr, in welchen Gegenden er sich befand. Er glaubte bis da, als tüchtiger Geograph, den Strich der Reise im Allgemeinen genau verfolgt zu haben. Die Völkerschaften, die Producte der Länder, wie die Himmelszeichen verwirrten sich; aber er hatte auch nicht mehr wie früher darauf Acht. Er wußte nur, daß man, wahrscheinlich um seine Qual zu steigern, ihn auf dem längsten Wege nach dem Ort seiner Bestimmung führte. Ihm war es gleichgültig geworden, denn er beschäftigte sich mit sich selbst. Seine Zukunft war einförmig; bewegter die Vergangenheit, auf die er zurückblickte; und je ernster er das Auge darauf richtete, um so unzufriedener ward er mit sich. Wie anders sah er in dem dunkeln Wagen Vieles an, wie vordem, als das Licht der Sonne, der Schatten der Verhältnisse darauf fiel. Wie Vielen hatte er Unrecht gethan, wie oft aus ungegründetem Argwohn Andern und sich geschadet. Warum hatte er den Handlungen seiner Nebenmenschen immer die unlautersten Beweggründe untergelegt; und wenn er darin richtig geblickt, wer gab ihm ein Recht, auf die Motive allein zu sehen, und nicht auf die Wirkung, auf die That, wie sie geworden. Wie Vieles hatte er danach zu bereuen, um wie viel milder beurtheilte er die, welche

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T12:11:53Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T12:11:53Z)

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Herr von Sacken. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–202. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_sacken_1910/99>, abgerufen am 24.11.2024.