Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

der über eine Gesellschaft hinfliegen soll, den Wider¬
schein und Abdruck des Apparates anzunehmen.

Der Patriotismus hier war anderer Schattirung,
als der, welcher den Scheiben des französischen Ge¬
sandten gedroht. Das große Ereigniß, welches die
Straßen, die höheren Kreise heut Abend in Bewe¬
gung versetzt, die diplomatischen in Entsetzen, hatte
weniger Wirkung hervorgebracht. Man betrachtete
den Krieg als etwas Ausgemachtes, Nothwendiges,
die Dehors desselben kümmerten die Anwesenden we¬
niger. Nur die jüngern Leute versuchten in einer
Nebenstube am Klavier die sechs neuen eben erschie¬
nenen Kriegslieder, componirt von Helwig, zu singen.
Allgemeinsten Beifall erndtete aber das Kriegslied
der Preußen von Karl Müchler, componirt von Mappes:
"Endlich tönt der Ruf der Lust!"

Aber es war ein anderer, näher liegender Ge¬
genstand, der die practischen Leute beschäftigte. Gestern
war eine Frage entschieden, die schon Wochen lang
die Gemüther beschäftigt hatte: ob die Infanteristen
Mäntel haben müßten? Es war eine Frage gewe¬
sen, so wichtig, so ernst behandelt und so lebhaft als
irgend eine, welche zuweilen als Riesenschlange durch
alle Gesellschaften in Berlin, von den Spitzen der
Thürme bis in die Winkel der Kellerwohnungen sich
gewunden und dort ihre Streiter gefunden hat. Fra¬
gen wie die, ob das neue Jahrhundert um Mitter¬
nacht zu 1800 oder zu 1801 gefeiert werden müsse,
ob Fleck oder Iffland ein größerer Schauspieler,

V. 5

der über eine Geſellſchaft hinfliegen ſoll, den Wider¬
ſchein und Abdruck des Apparates anzunehmen.

Der Patriotismus hier war anderer Schattirung,
als der, welcher den Scheiben des franzöſiſchen Ge¬
ſandten gedroht. Das große Ereigniß, welches die
Straßen, die höheren Kreiſe heut Abend in Bewe¬
gung verſetzt, die diplomatiſchen in Entſetzen, hatte
weniger Wirkung hervorgebracht. Man betrachtete
den Krieg als etwas Ausgemachtes, Nothwendiges,
die Dehors deſſelben kümmerten die Anweſenden we¬
niger. Nur die jüngern Leute verſuchten in einer
Nebenſtube am Klavier die ſechs neuen eben erſchie¬
nenen Kriegslieder, componirt von Helwig, zu ſingen.
Allgemeinſten Beifall erndtete aber das Kriegslied
der Preußen von Karl Müchler, componirt von Mappes:
„Endlich tönt der Ruf der Luſt!“

Aber es war ein anderer, näher liegender Ge¬
genſtand, der die practiſchen Leute beſchäftigte. Geſtern
war eine Frage entſchieden, die ſchon Wochen lang
die Gemüther beſchäftigt hatte: ob die Infanteriſten
Mäntel haben müßten? Es war eine Frage gewe¬
ſen, ſo wichtig, ſo ernſt behandelt und ſo lebhaft als
irgend eine, welche zuweilen als Rieſenſchlange durch
alle Geſellſchaften in Berlin, von den Spitzen der
Thürme bis in die Winkel der Kellerwohnungen ſich
gewunden und dort ihre Streiter gefunden hat. Fra¬
gen wie die, ob das neue Jahrhundert um Mitter¬
nacht zu 1800 oder zu 1801 gefeiert werden müſſe,
ob Fleck oder Iffland ein größerer Schauſpieler,

V. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0075" n="65"/>
der über eine Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft hinfliegen &#x017F;oll, den Wider¬<lb/>
&#x017F;chein und Abdruck des Apparates anzunehmen.</p><lb/>
        <p>Der Patriotismus hier war anderer Schattirung,<lb/>
als der, welcher den Scheiben des franzö&#x017F;i&#x017F;chen Ge¬<lb/>
&#x017F;andten gedroht. Das große Ereigniß, welches die<lb/>
Straßen, die höheren Krei&#x017F;e heut Abend in Bewe¬<lb/>
gung ver&#x017F;etzt, die diplomati&#x017F;chen in Ent&#x017F;etzen, hatte<lb/>
weniger Wirkung hervorgebracht. Man betrachtete<lb/>
den Krieg als etwas Ausgemachtes, Nothwendiges,<lb/>
die Dehors de&#x017F;&#x017F;elben kümmerten die Anwe&#x017F;enden we¬<lb/>
niger. Nur die jüngern Leute ver&#x017F;uchten in einer<lb/>
Neben&#x017F;tube am Klavier die &#x017F;echs neuen eben er&#x017F;chie¬<lb/>
nenen Kriegslieder, componirt von Helwig, zu &#x017F;ingen.<lb/>
Allgemein&#x017F;ten Beifall erndtete aber das Kriegslied<lb/>
der Preußen von Karl Müchler, componirt von Mappes:<lb/>
&#x201E;Endlich tönt der Ruf der Lu&#x017F;t!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Aber es war ein anderer, näher liegender Ge¬<lb/>
gen&#x017F;tand, der die practi&#x017F;chen Leute be&#x017F;chäftigte. Ge&#x017F;tern<lb/>
war eine Frage ent&#x017F;chieden, die &#x017F;chon Wochen lang<lb/>
die Gemüther be&#x017F;chäftigt hatte: ob die Infanteri&#x017F;ten<lb/>
Mäntel haben müßten? Es war eine Frage gewe¬<lb/>
&#x017F;en, &#x017F;o wichtig, &#x017F;o ern&#x017F;t behandelt und &#x017F;o lebhaft als<lb/>
irgend eine, welche zuweilen als Rie&#x017F;en&#x017F;chlange durch<lb/>
alle Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften in Berlin, von den Spitzen der<lb/>
Thürme bis in die Winkel der Kellerwohnungen &#x017F;ich<lb/>
gewunden und dort ihre Streiter gefunden hat. Fra¬<lb/>
gen wie die, ob das neue Jahrhundert um Mitter¬<lb/>
nacht zu 1800 oder zu 1801 gefeiert werden mü&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
ob Fleck oder Iffland ein größerer Schau&#x017F;pieler,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">V</hi>. 5<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0075] der über eine Geſellſchaft hinfliegen ſoll, den Wider¬ ſchein und Abdruck des Apparates anzunehmen. Der Patriotismus hier war anderer Schattirung, als der, welcher den Scheiben des franzöſiſchen Ge¬ ſandten gedroht. Das große Ereigniß, welches die Straßen, die höheren Kreiſe heut Abend in Bewe¬ gung verſetzt, die diplomatiſchen in Entſetzen, hatte weniger Wirkung hervorgebracht. Man betrachtete den Krieg als etwas Ausgemachtes, Nothwendiges, die Dehors deſſelben kümmerten die Anweſenden we¬ niger. Nur die jüngern Leute verſuchten in einer Nebenſtube am Klavier die ſechs neuen eben erſchie¬ nenen Kriegslieder, componirt von Helwig, zu ſingen. Allgemeinſten Beifall erndtete aber das Kriegslied der Preußen von Karl Müchler, componirt von Mappes: „Endlich tönt der Ruf der Luſt!“ Aber es war ein anderer, näher liegender Ge¬ genſtand, der die practiſchen Leute beſchäftigte. Geſtern war eine Frage entſchieden, die ſchon Wochen lang die Gemüther beſchäftigt hatte: ob die Infanteriſten Mäntel haben müßten? Es war eine Frage gewe¬ ſen, ſo wichtig, ſo ernſt behandelt und ſo lebhaft als irgend eine, welche zuweilen als Rieſenſchlange durch alle Geſellſchaften in Berlin, von den Spitzen der Thürme bis in die Winkel der Kellerwohnungen ſich gewunden und dort ihre Streiter gefunden hat. Fra¬ gen wie die, ob das neue Jahrhundert um Mitter¬ nacht zu 1800 oder zu 1801 gefeiert werden müſſe, ob Fleck oder Iffland ein größerer Schauſpieler, V. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/75
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/75>, abgerufen am 01.05.2024.