Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

nun, das kümmert Sie und mich nicht. Wir haben
ja keine Kinder."

"Aber einen Glauben habe ich, entgegnete Wal¬
ter, daß in dieser Fäulniß noch gesunde Stämme sind.
Grade aus diesem abgestorbenen Elend im Reiche
erheben sich die Größen unseres nächsten Vater¬
landes."

"Was ist Größe! Sie werden nun in un¬
sern Archiven blättern. Ach, wenn Sie in den
Correspondenzen, den wenigen Zeugnissen der Zeit¬
genossen lesen, die man klugerweise daselbst vor
der Fackel der Geschichte bewahrte, ach, Sie werden
so viel Perrücken und Schlafröcke sehen, daß Ihnen
die großen Männer darüber verschwinden. Wie viele
Wunder, wie vieler Heroismus, wie viel Unbegreif¬
liches wird Ihnen sehr begreiflich und ordinair er¬
scheinen. Die Glas Wasser, die umgestoßenen Cho¬
colatentassen, Liebster, sind es nicht allein, die über
Königreiche, Dynastieen und Völkerglück entschieden
haben, der ewige Faden der Gemeinheiten und Nie¬
derträchtigkeiten zieht sich durch die Weltgeschichte.
Mückenstiche, eine schlaflose Nacht, eine schlechte Ver¬
dauung, haben auch über die Impulse derer entschie¬
den, die auf der Menschheit Höhen wandelten; so we¬
nigstens admiriren wir sie. Wie mögen sie in jenen
Regionen über uns lächeln! -- Wo unsrer Fäulniß
Sitz ist, darüber sind unsere Freunde einig. Aber
worauf brüsten wir uns noch, und wenn wir
die Theile unter das Mikroskop bringen, auch da

2 *

nun, das kümmert Sie und mich nicht. Wir haben
ja keine Kinder.“

„Aber einen Glauben habe ich, entgegnete Wal¬
ter, daß in dieſer Fäulniß noch geſunde Stämme ſind.
Grade aus dieſem abgeſtorbenen Elend im Reiche
erheben ſich die Größen unſeres nächſten Vater¬
landes.“

„Was iſt Größe! Sie werden nun in un¬
ſern Archiven blättern. Ach, wenn Sie in den
Correſpondenzen, den wenigen Zeugniſſen der Zeit¬
genoſſen leſen, die man klugerweiſe daſelbſt vor
der Fackel der Geſchichte bewahrte, ach, Sie werden
ſo viel Perrücken und Schlafröcke ſehen, daß Ihnen
die großen Männer darüber verſchwinden. Wie viele
Wunder, wie vieler Heroismus, wie viel Unbegreif¬
liches wird Ihnen ſehr begreiflich und ordinair er¬
ſcheinen. Die Glas Waſſer, die umgeſtoßenen Cho¬
colatentaſſen, Liebſter, ſind es nicht allein, die über
Königreiche, Dynaſtieen und Völkerglück entſchieden
haben, der ewige Faden der Gemeinheiten und Nie¬
derträchtigkeiten zieht ſich durch die Weltgeſchichte.
Mückenſtiche, eine ſchlafloſe Nacht, eine ſchlechte Ver¬
dauung, haben auch über die Impulſe derer entſchie¬
den, die auf der Menſchheit Höhen wandelten; ſo we¬
nigſtens admiriren wir ſie. Wie mögen ſie in jenen
Regionen über uns lächeln! — Wo unſrer Fäulniß
Sitz iſt, darüber ſind unſere Freunde einig. Aber
worauf brüſten wir uns noch, und wenn wir
die Theile unter das Mikroskop bringen, auch da

2 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0029" n="19"/>
nun, das kümmert Sie und mich nicht. Wir haben<lb/>
ja keine Kinder.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber einen Glauben habe ich, entgegnete Wal¬<lb/>
ter, daß in die&#x017F;er Fäulniß noch ge&#x017F;unde Stämme &#x017F;ind.<lb/>
Grade aus die&#x017F;em abge&#x017F;torbenen Elend im Reiche<lb/>
erheben &#x017F;ich die Größen un&#x017F;eres näch&#x017F;ten Vater¬<lb/>
landes.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was i&#x017F;t Größe! Sie werden nun in un¬<lb/>
&#x017F;ern Archiven blättern. Ach, wenn Sie in den<lb/>
Corre&#x017F;pondenzen, den wenigen Zeugni&#x017F;&#x017F;en der Zeit¬<lb/>
geno&#x017F;&#x017F;en le&#x017F;en, die man klugerwei&#x017F;e da&#x017F;elb&#x017F;t vor<lb/>
der Fackel der Ge&#x017F;chichte bewahrte, ach, Sie werden<lb/>
&#x017F;o viel Perrücken und Schlafröcke &#x017F;ehen, daß Ihnen<lb/>
die großen Männer darüber ver&#x017F;chwinden. Wie viele<lb/>
Wunder, wie vieler Heroismus, wie viel Unbegreif¬<lb/>
liches wird Ihnen &#x017F;ehr begreiflich und ordinair er¬<lb/>
&#x017F;cheinen. Die Glas Wa&#x017F;&#x017F;er, die umge&#x017F;toßenen Cho¬<lb/>
colatenta&#x017F;&#x017F;en, Lieb&#x017F;ter, &#x017F;ind es nicht allein, die über<lb/>
Königreiche, Dyna&#x017F;tieen und Völkerglück ent&#x017F;chieden<lb/>
haben, der ewige Faden der Gemeinheiten und Nie¬<lb/>
derträchtigkeiten zieht &#x017F;ich durch die Weltge&#x017F;chichte.<lb/>
Mücken&#x017F;tiche, eine &#x017F;chlaflo&#x017F;e Nacht, eine &#x017F;chlechte Ver¬<lb/>
dauung, haben auch über die Impul&#x017F;e derer ent&#x017F;chie¬<lb/>
den, die auf der Men&#x017F;chheit Höhen wandelten; &#x017F;o we¬<lb/>
nig&#x017F;tens admiriren wir &#x017F;ie. Wie mögen &#x017F;ie in jenen<lb/>
Regionen über uns lächeln! &#x2014; Wo un&#x017F;rer Fäulniß<lb/>
Sitz i&#x017F;t, darüber &#x017F;ind un&#x017F;ere Freunde einig. Aber<lb/>
worauf brü&#x017F;ten wir uns noch, und wenn wir<lb/>
die Theile unter das Mikroskop bringen, auch da<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">2 *<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0029] nun, das kümmert Sie und mich nicht. Wir haben ja keine Kinder.“ „Aber einen Glauben habe ich, entgegnete Wal¬ ter, daß in dieſer Fäulniß noch geſunde Stämme ſind. Grade aus dieſem abgeſtorbenen Elend im Reiche erheben ſich die Größen unſeres nächſten Vater¬ landes.“ „Was iſt Größe! Sie werden nun in un¬ ſern Archiven blättern. Ach, wenn Sie in den Correſpondenzen, den wenigen Zeugniſſen der Zeit¬ genoſſen leſen, die man klugerweiſe daſelbſt vor der Fackel der Geſchichte bewahrte, ach, Sie werden ſo viel Perrücken und Schlafröcke ſehen, daß Ihnen die großen Männer darüber verſchwinden. Wie viele Wunder, wie vieler Heroismus, wie viel Unbegreif¬ liches wird Ihnen ſehr begreiflich und ordinair er¬ ſcheinen. Die Glas Waſſer, die umgeſtoßenen Cho¬ colatentaſſen, Liebſter, ſind es nicht allein, die über Königreiche, Dynaſtieen und Völkerglück entſchieden haben, der ewige Faden der Gemeinheiten und Nie¬ derträchtigkeiten zieht ſich durch die Weltgeſchichte. Mückenſtiche, eine ſchlafloſe Nacht, eine ſchlechte Ver¬ dauung, haben auch über die Impulſe derer entſchie¬ den, die auf der Menſchheit Höhen wandelten; ſo we¬ nigſtens admiriren wir ſie. Wie mögen ſie in jenen Regionen über uns lächeln! — Wo unſrer Fäulniß Sitz iſt, darüber ſind unſere Freunde einig. Aber worauf brüſten wir uns noch, und wenn wir die Theile unter das Mikroskop bringen, auch da 2 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/29
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/29>, abgerufen am 25.04.2024.