in ihr aufgestiegen, und hatte die Aufwallung einer Phantasie so lange, künstliche, wenn auch nie ganz feste Bande gesprengt? Oder lag etwas Bestimmtes zum Grunde?
Mit jedem Schritte gewann dir letzte Vorstellung an Gewicht. Eine fürchterliche Ueberzeugung, aus Kettengliedern zu einer Kette geworden. Er war nicht mehr, oder vielmehr, er galt nicht mehr, was er gegolten. Wer giebt einem fadenscheinigen Rock seine Wolle wieder! Sein Kopf senkte sich, seine Füße wurden schwerer. Der frühe Morgen war ein Glück für ihn; er begegnete keinen Bekannten. Der große Menschenkünstler hätte seine Aufregung nicht verbergen können.
Dort stand er an der Ecke, zaudernd, drei Wege vor ihm, der eine führte zur Post. Seine rechte Hand griff unter den Rock, an die Stelle, wo das Herz sitzt. Ob er dessen Pochen hörte, es unter¬ drücken wollte? Ueber dem Herzen war aber auch die Brusttasche des Rockes, in dieser sein Taschenbuch, und in demselben steckte ein von allen Gesandtschaften visirter Paß in's Ausland. Es waren auch vielleicht mehre Pässe auf mehre Namen. -- Sein Sinnen in dem Augenblicke war, ob er nach der Post eilen, Extrapost nehmen, und die Stadt und das Land auf immer verlassen solle? Vielleicht ließ er damit mehr hier zurück, als den Staub seiner Füße -- seinen Namen. An einem andern Orte tauchte er unter einem andern neugeboren auf; die Welt ist groß.
in ihr aufgeſtiegen, und hatte die Aufwallung einer Phantaſie ſo lange, künſtliche, wenn auch nie ganz feſte Bande geſprengt? Oder lag etwas Beſtimmtes zum Grunde?
Mit jedem Schritte gewann dir letzte Vorſtellung an Gewicht. Eine fürchterliche Ueberzeugung, aus Kettengliedern zu einer Kette geworden. Er war nicht mehr, oder vielmehr, er galt nicht mehr, was er gegolten. Wer giebt einem fadenſcheinigen Rock ſeine Wolle wieder! Sein Kopf ſenkte ſich, ſeine Füße wurden ſchwerer. Der frühe Morgen war ein Glück für ihn; er begegnete keinen Bekannten. Der große Menſchenkünſtler hätte ſeine Aufregung nicht verbergen können.
Dort ſtand er an der Ecke, zaudernd, drei Wege vor ihm, der eine führte zur Poſt. Seine rechte Hand griff unter den Rock, an die Stelle, wo das Herz ſitzt. Ob er deſſen Pochen hörte, es unter¬ drücken wollte? Ueber dem Herzen war aber auch die Bruſttaſche des Rockes, in dieſer ſein Taſchenbuch, und in demſelben ſteckte ein von allen Geſandtſchaften viſirter Paß in's Ausland. Es waren auch vielleicht mehre Päſſe auf mehre Namen. — Sein Sinnen in dem Augenblicke war, ob er nach der Poſt eilen, Extrapoſt nehmen, und die Stadt und das Land auf immer verlaſſen ſolle? Vielleicht ließ er damit mehr hier zurück, als den Staub ſeiner Füße — ſeinen Namen. An einem andern Orte tauchte er unter einem andern neugeboren auf; die Welt iſt groß.
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in ihr aufgeſtiegen, und hatte die Aufwallung einer
Phantaſie ſo lange, künſtliche, wenn auch nie ganz
feſte Bande geſprengt? Oder lag etwas Beſtimmtes
zum Grunde?
Mit jedem Schritte gewann dir letzte Vorſtellung
an Gewicht. Eine fürchterliche Ueberzeugung, aus
Kettengliedern zu einer Kette geworden. Er war
nicht mehr, oder vielmehr, er galt nicht mehr, was
er gegolten. Wer giebt einem fadenſcheinigen Rock
ſeine Wolle wieder! Sein Kopf ſenkte ſich, ſeine
Füße wurden ſchwerer. Der frühe Morgen war ein
Glück für ihn; er begegnete keinen Bekannten. Der
große Menſchenkünſtler hätte ſeine Aufregung nicht
verbergen können.
Dort ſtand er an der Ecke, zaudernd, drei Wege
vor ihm, der eine führte zur Poſt. Seine rechte
Hand griff unter den Rock, an die Stelle, wo das
Herz ſitzt. Ob er deſſen Pochen hörte, es unter¬
drücken wollte? Ueber dem Herzen war aber auch
die Bruſttaſche des Rockes, in dieſer ſein Taſchenbuch,
und in demſelben ſteckte ein von allen Geſandtſchaften
viſirter Paß in's Ausland. Es waren auch vielleicht
mehre Päſſe auf mehre Namen. — Sein Sinnen
in dem Augenblicke war, ob er nach der Poſt eilen,
Extrapoſt nehmen, und die Stadt und das Land auf
immer verlaſſen ſolle? Vielleicht ließ er damit mehr
hier zurück, als den Staub ſeiner Füße — ſeinen
Namen. An einem andern Orte tauchte er unter
einem andern neugeboren auf; die Welt iſt groß.
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/196>, abgerufen am 23.11.2024.
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