uns nahe kam, da erquickte uns Lafontaine mit der rührenden Einfalt seiner Personen, wir sahen uns an, und wenn wir es nicht aussprachen, dachten wir es: es giebt doch noch gute Menschen. Warum sind die es nicht, welche die Vorsehung uns in den Weg führt. Zuweilen erhört dann der Himmel unsern Wunsch, und wenn wir es am wenigsten erwarten."
Der gütigste Blick ruhte auf Adelheid.
"Was sind denn Ihre Lieblingscharactere in La¬ fontaine?" fragte die Fürstin, um sie in ihrer sicht¬ baren Verlegenheit aufzumuntern. Die Gütige sah wohl die Wirkung, aber nicht die Ursache. Adelheid hatte an den Romanen nie Geschmack finden können; sie hatte die wenigsten durchgelesen. Sollte sie lügen vor einer Monarchin, die allen Schmuck der Hoheit vor ihr abgelegt, und nur in ihrem edelsten Selbst sich gab! Adelheid hätte in diesem Augenblick auf¬ stehen und ihr zu Füßen stürzen können, um die Wahr¬ heit in ihr zu verehren, die nicht in schönerer Gestalt sich verkörpern konnte, aber die Unwahrheit sprechen konnte sie nicht.
Es floß von ihrem Munde, was sie dachte, mit einer kleinen Einfassung von Schmeichelei, die darum nicht Unwahrheit war: "Mich dünkt, des Dichters Aufgabe ist, die Menschen zu schildern, wie sie sind. Weil er Dichter ist, darf er das Schöne und Erhabene in seinem wunderbar geschliffenen Spiegel vergrößern und verschönern, und es mag ihm auch vielleicht erlaubt sein, das Häßliche und Schlechte noch etwas
uns nahe kam, da erquickte uns Lafontaine mit der rührenden Einfalt ſeiner Perſonen, wir ſahen uns an, und wenn wir es nicht ausſprachen, dachten wir es: es giebt doch noch gute Menſchen. Warum ſind die es nicht, welche die Vorſehung uns in den Weg führt. Zuweilen erhört dann der Himmel unſern Wunſch, und wenn wir es am wenigſten erwarten.“
Der gütigſte Blick ruhte auf Adelheid.
„Was ſind denn Ihre Lieblingscharactere in La¬ fontaine?“ fragte die Fürſtin, um ſie in ihrer ſicht¬ baren Verlegenheit aufzumuntern. Die Gütige ſah wohl die Wirkung, aber nicht die Urſache. Adelheid hatte an den Romanen nie Geſchmack finden können; ſie hatte die wenigſten durchgeleſen. Sollte ſie lügen vor einer Monarchin, die allen Schmuck der Hoheit vor ihr abgelegt, und nur in ihrem edelſten Selbſt ſich gab! Adelheid hätte in dieſem Augenblick auf¬ ſtehen und ihr zu Füßen ſtürzen können, um die Wahr¬ heit in ihr zu verehren, die nicht in ſchönerer Geſtalt ſich verkörpern konnte, aber die Unwahrheit ſprechen konnte ſie nicht.
Es floß von ihrem Munde, was ſie dachte, mit einer kleinen Einfaſſung von Schmeichelei, die darum nicht Unwahrheit war: „Mich dünkt, des Dichters Aufgabe iſt, die Menſchen zu ſchildern, wie ſie ſind. Weil er Dichter iſt, darf er das Schöne und Erhabene in ſeinem wunderbar geſchliffenen Spiegel vergrößern und verſchönern, und es mag ihm auch vielleicht erlaubt ſein, das Häßliche und Schlechte noch etwas
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uns nahe kam, da erquickte uns Lafontaine mit der
rührenden Einfalt ſeiner Perſonen, wir ſahen uns
an, und wenn wir es nicht ausſprachen, dachten wir
es: es giebt doch noch gute Menſchen. Warum ſind
die es nicht, welche die Vorſehung uns in den Weg
führt. Zuweilen erhört dann der Himmel unſern
Wunſch, und wenn wir es am wenigſten erwarten.“
Der gütigſte Blick ruhte auf Adelheid.
„Was ſind denn Ihre Lieblingscharactere in La¬
fontaine?“ fragte die Fürſtin, um ſie in ihrer ſicht¬
baren Verlegenheit aufzumuntern. Die Gütige ſah
wohl die Wirkung, aber nicht die Urſache. Adelheid
hatte an den Romanen nie Geſchmack finden können;
ſie hatte die wenigſten durchgeleſen. Sollte ſie lügen
vor einer Monarchin, die allen Schmuck der Hoheit
vor ihr abgelegt, und nur in ihrem edelſten Selbſt
ſich gab! Adelheid hätte in dieſem Augenblick auf¬
ſtehen und ihr zu Füßen ſtürzen können, um die Wahr¬
heit in ihr zu verehren, die nicht in ſchönerer Geſtalt
ſich verkörpern konnte, aber die Unwahrheit ſprechen
konnte ſie nicht.
Es floß von ihrem Munde, was ſie dachte, mit
einer kleinen Einfaſſung von Schmeichelei, die darum
nicht Unwahrheit war: „Mich dünkt, des Dichters
Aufgabe iſt, die Menſchen zu ſchildern, wie ſie ſind.
Weil er Dichter iſt, darf er das Schöne und Erhabene
in ſeinem wunderbar geſchliffenen Spiegel vergrößern
und verſchönern, und es mag ihm auch vielleicht
erlaubt ſein, das Häßliche und Schlechte noch etwas
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/131>, abgerufen am 23.11.2024.
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