Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

uns nahe kam, da erquickte uns Lafontaine mit der
rührenden Einfalt seiner Personen, wir sahen uns
an, und wenn wir es nicht aussprachen, dachten wir
es: es giebt doch noch gute Menschen. Warum sind
die es nicht, welche die Vorsehung uns in den Weg
führt. Zuweilen erhört dann der Himmel unsern
Wunsch, und wenn wir es am wenigsten erwarten."

Der gütigste Blick ruhte auf Adelheid.

"Was sind denn Ihre Lieblingscharactere in La¬
fontaine?" fragte die Fürstin, um sie in ihrer sicht¬
baren Verlegenheit aufzumuntern. Die Gütige sah
wohl die Wirkung, aber nicht die Ursache. Adelheid
hatte an den Romanen nie Geschmack finden können;
sie hatte die wenigsten durchgelesen. Sollte sie lügen
vor einer Monarchin, die allen Schmuck der Hoheit
vor ihr abgelegt, und nur in ihrem edelsten Selbst
sich gab! Adelheid hätte in diesem Augenblick auf¬
stehen und ihr zu Füßen stürzen können, um die Wahr¬
heit in ihr zu verehren, die nicht in schönerer Gestalt
sich verkörpern konnte, aber die Unwahrheit sprechen
konnte sie nicht.

Es floß von ihrem Munde, was sie dachte, mit
einer kleinen Einfassung von Schmeichelei, die darum
nicht Unwahrheit war: "Mich dünkt, des Dichters
Aufgabe ist, die Menschen zu schildern, wie sie sind.
Weil er Dichter ist, darf er das Schöne und Erhabene
in seinem wunderbar geschliffenen Spiegel vergrößern
und verschönern, und es mag ihm auch vielleicht
erlaubt sein, das Häßliche und Schlechte noch etwas

uns nahe kam, da erquickte uns Lafontaine mit der
rührenden Einfalt ſeiner Perſonen, wir ſahen uns
an, und wenn wir es nicht ausſprachen, dachten wir
es: es giebt doch noch gute Menſchen. Warum ſind
die es nicht, welche die Vorſehung uns in den Weg
führt. Zuweilen erhört dann der Himmel unſern
Wunſch, und wenn wir es am wenigſten erwarten.“

Der gütigſte Blick ruhte auf Adelheid.

„Was ſind denn Ihre Lieblingscharactere in La¬
fontaine?“ fragte die Fürſtin, um ſie in ihrer ſicht¬
baren Verlegenheit aufzumuntern. Die Gütige ſah
wohl die Wirkung, aber nicht die Urſache. Adelheid
hatte an den Romanen nie Geſchmack finden können;
ſie hatte die wenigſten durchgeleſen. Sollte ſie lügen
vor einer Monarchin, die allen Schmuck der Hoheit
vor ihr abgelegt, und nur in ihrem edelſten Selbſt
ſich gab! Adelheid hätte in dieſem Augenblick auf¬
ſtehen und ihr zu Füßen ſtürzen können, um die Wahr¬
heit in ihr zu verehren, die nicht in ſchönerer Geſtalt
ſich verkörpern konnte, aber die Unwahrheit ſprechen
konnte ſie nicht.

Es floß von ihrem Munde, was ſie dachte, mit
einer kleinen Einfaſſung von Schmeichelei, die darum
nicht Unwahrheit war: „Mich dünkt, des Dichters
Aufgabe iſt, die Menſchen zu ſchildern, wie ſie ſind.
Weil er Dichter iſt, darf er das Schöne und Erhabene
in ſeinem wunderbar geſchliffenen Spiegel vergrößern
und verſchönern, und es mag ihm auch vielleicht
erlaubt ſein, das Häßliche und Schlechte noch etwas

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0131" n="121"/>
uns nahe kam, da erquickte uns Lafontaine mit der<lb/>
rührenden Einfalt &#x017F;einer Per&#x017F;onen, wir &#x017F;ahen uns<lb/>
an, und wenn wir es nicht aus&#x017F;prachen, dachten wir<lb/>
es: es giebt doch noch gute Men&#x017F;chen. Warum &#x017F;ind<lb/>
die es nicht, welche die Vor&#x017F;ehung uns in den Weg<lb/>
führt. Zuweilen erhört dann der Himmel un&#x017F;ern<lb/>
Wun&#x017F;ch, und wenn wir es am wenig&#x017F;ten erwarten.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Der gütig&#x017F;te Blick ruhte auf Adelheid.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was &#x017F;ind denn Ihre Lieblingscharactere in La¬<lb/>
fontaine?&#x201C; fragte die Für&#x017F;tin, um &#x017F;ie in ihrer &#x017F;icht¬<lb/>
baren Verlegenheit aufzumuntern. Die Gütige &#x017F;ah<lb/>
wohl die Wirkung, aber nicht die Ur&#x017F;ache. Adelheid<lb/>
hatte an den Romanen nie Ge&#x017F;chmack finden können;<lb/>
&#x017F;ie hatte die wenig&#x017F;ten durchgele&#x017F;en. Sollte &#x017F;ie lügen<lb/>
vor einer Monarchin, die allen Schmuck der Hoheit<lb/>
vor ihr abgelegt, und nur in ihrem edel&#x017F;ten Selb&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ich gab! Adelheid hätte in die&#x017F;em Augenblick auf¬<lb/>
&#x017F;tehen und ihr zu Füßen &#x017F;türzen können, um die Wahr¬<lb/>
heit in ihr zu verehren, die nicht in &#x017F;chönerer Ge&#x017F;talt<lb/>
&#x017F;ich verkörpern konnte, aber die Unwahrheit &#x017F;prechen<lb/>
konnte &#x017F;ie nicht.</p><lb/>
        <p>Es floß von ihrem Munde, was &#x017F;ie dachte, mit<lb/>
einer kleinen Einfa&#x017F;&#x017F;ung von Schmeichelei, die darum<lb/>
nicht Unwahrheit war: &#x201E;Mich dünkt, des Dichters<lb/>
Aufgabe i&#x017F;t, die Men&#x017F;chen zu &#x017F;childern, wie &#x017F;ie &#x017F;ind.<lb/>
Weil er Dichter i&#x017F;t, darf er das Schöne und Erhabene<lb/>
in &#x017F;einem wunderbar ge&#x017F;chliffenen Spiegel vergrößern<lb/>
und ver&#x017F;chönern, und es mag ihm auch vielleicht<lb/>
erlaubt &#x017F;ein, das Häßliche und Schlechte noch etwas<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0131] uns nahe kam, da erquickte uns Lafontaine mit der rührenden Einfalt ſeiner Perſonen, wir ſahen uns an, und wenn wir es nicht ausſprachen, dachten wir es: es giebt doch noch gute Menſchen. Warum ſind die es nicht, welche die Vorſehung uns in den Weg führt. Zuweilen erhört dann der Himmel unſern Wunſch, und wenn wir es am wenigſten erwarten.“ Der gütigſte Blick ruhte auf Adelheid. „Was ſind denn Ihre Lieblingscharactere in La¬ fontaine?“ fragte die Fürſtin, um ſie in ihrer ſicht¬ baren Verlegenheit aufzumuntern. Die Gütige ſah wohl die Wirkung, aber nicht die Urſache. Adelheid hatte an den Romanen nie Geſchmack finden können; ſie hatte die wenigſten durchgeleſen. Sollte ſie lügen vor einer Monarchin, die allen Schmuck der Hoheit vor ihr abgelegt, und nur in ihrem edelſten Selbſt ſich gab! Adelheid hätte in dieſem Augenblick auf¬ ſtehen und ihr zu Füßen ſtürzen können, um die Wahr¬ heit in ihr zu verehren, die nicht in ſchönerer Geſtalt ſich verkörpern konnte, aber die Unwahrheit ſprechen konnte ſie nicht. Es floß von ihrem Munde, was ſie dachte, mit einer kleinen Einfaſſung von Schmeichelei, die darum nicht Unwahrheit war: „Mich dünkt, des Dichters Aufgabe iſt, die Menſchen zu ſchildern, wie ſie ſind. Weil er Dichter iſt, darf er das Schöne und Erhabene in ſeinem wunderbar geſchliffenen Spiegel vergrößern und verſchönern, und es mag ihm auch vielleicht erlaubt ſein, das Häßliche und Schlechte noch etwas

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/131
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/131>, abgerufen am 02.07.2024.