Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Aber sie erschrak über ihre eigenen Worte. Es war
eine Rede, geborgt aus einer anderen Stimmung,
denn sie hatte ja eben nicht an das Vaterland, sie
hatte nur an sich gedacht: Wie sie dort im kurzen
Röckchen unter den Platanen gespielt, unter den Brom¬
beersträuchern Hütten gebaut, der kleine grüne Fleck
hinter den verkümmerten Tannen war eine Wüste
gewesen, die für sie kein Ende hatte. Das Wort
Waldeinsamkeit war noch nicht Gemeingut, aber sie
hatte die Ahnung und den Begriff. Und dann --
durch dieselbe Allee war sie später gefahren, und
wenn sie an die forschenden Blicke der Neugierigen
dachte, die sie jetzt erst verstand, schoß das Blut ihr
zu Kopf! Aber auch die Obristin Malchen und ihre
Nichten verschwanden wieder wie neckende Spukgei¬
ster hinter den Gesträuchen, in denen die Sonne ihr
Gold aussprenkelte. Wie oft war sie an der Seite
der Geheimräthin hier vorüber gerollt. Warum war
diese Erinnerung ihr jetzt weit schreckhafter? War¬
um rückte sie in die Ecke des Wagens, als scheue sie
vor der Berührung eines Gespenstes? Verdankte
sie ihr nicht viel, sehr viel, ihr ganzes geistiges
Dasein dem Umgang der klugen Frau, ihren Belehrun¬
gen? Ja, vielleicht war es das, was wie ein Frost¬
fieber ihre Adern durchrieselte. Sie war die che¬
mische Säure gewesen, die aus der jungen Brust die
Begeisterung, aus dem Blut die Elasticität gesogen,
den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Sie
wäre untergegangen, das fühlte sie, in dieser kalten,

Aber ſie erſchrak über ihre eigenen Worte. Es war
eine Rede, geborgt aus einer anderen Stimmung,
denn ſie hatte ja eben nicht an das Vaterland, ſie
hatte nur an ſich gedacht: Wie ſie dort im kurzen
Röckchen unter den Platanen geſpielt, unter den Brom¬
beerſträuchern Hütten gebaut, der kleine grüne Fleck
hinter den verkümmerten Tannen war eine Wüſte
geweſen, die für ſie kein Ende hatte. Das Wort
Waldeinſamkeit war noch nicht Gemeingut, aber ſie
hatte die Ahnung und den Begriff. Und dann —
durch dieſelbe Allee war ſie ſpäter gefahren, und
wenn ſie an die forſchenden Blicke der Neugierigen
dachte, die ſie jetzt erſt verſtand, ſchoß das Blut ihr
zu Kopf! Aber auch die Obriſtin Malchen und ihre
Nichten verſchwanden wieder wie neckende Spukgei¬
ſter hinter den Geſträuchen, in denen die Sonne ihr
Gold ausſprenkelte. Wie oft war ſie an der Seite
der Geheimräthin hier vorüber gerollt. Warum war
dieſe Erinnerung ihr jetzt weit ſchreckhafter? War¬
um rückte ſie in die Ecke des Wagens, als ſcheue ſie
vor der Berührung eines Geſpenſtes? Verdankte
ſie ihr nicht viel, ſehr viel, ihr ganzes geiſtiges
Daſein dem Umgang der klugen Frau, ihren Belehrun¬
gen? Ja, vielleicht war es das, was wie ein Froſt¬
fieber ihre Adern durchrieſelte. Sie war die che¬
miſche Säure geweſen, die aus der jungen Bruſt die
Begeiſterung, aus dem Blut die Elaſticität geſogen,
den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Sie
wäre untergegangen, das fühlte ſie, in dieſer kalten,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0089" n="79"/>
Aber &#x017F;ie er&#x017F;chrak über ihre eigenen Worte. Es war<lb/>
eine Rede, geborgt aus einer anderen Stimmung,<lb/>
denn &#x017F;ie hatte ja eben nicht an das Vaterland, &#x017F;ie<lb/>
hatte nur an &#x017F;ich gedacht: Wie &#x017F;ie dort im kurzen<lb/>
Röckchen unter den Platanen ge&#x017F;pielt, unter den Brom¬<lb/>
beer&#x017F;träuchern Hütten gebaut, der kleine grüne Fleck<lb/>
hinter den verkümmerten Tannen war eine Wü&#x017F;te<lb/>
gewe&#x017F;en, die für &#x017F;ie kein Ende hatte. Das Wort<lb/>
Waldein&#x017F;amkeit war noch nicht Gemeingut, aber &#x017F;ie<lb/>
hatte die Ahnung und den Begriff. Und dann &#x2014;<lb/>
durch die&#x017F;elbe Allee war &#x017F;ie &#x017F;päter gefahren, und<lb/>
wenn &#x017F;ie an die for&#x017F;chenden Blicke der Neugierigen<lb/>
dachte, die &#x017F;ie jetzt er&#x017F;t ver&#x017F;tand, &#x017F;choß das Blut ihr<lb/>
zu Kopf! Aber auch die Obri&#x017F;tin Malchen und ihre<lb/>
Nichten ver&#x017F;chwanden wieder wie neckende Spukgei¬<lb/>
&#x017F;ter hinter den Ge&#x017F;träuchen, in denen die Sonne ihr<lb/>
Gold aus&#x017F;prenkelte. Wie oft war &#x017F;ie an der Seite<lb/>
der Geheimräthin hier vorüber gerollt. Warum war<lb/>
die&#x017F;e Erinnerung ihr jetzt weit &#x017F;chreckhafter? War¬<lb/>
um rückte &#x017F;ie in die Ecke des Wagens, als &#x017F;cheue &#x017F;ie<lb/>
vor der Berührung eines Ge&#x017F;pen&#x017F;tes? Verdankte<lb/>
&#x017F;ie ihr nicht viel, &#x017F;ehr viel, ihr ganzes gei&#x017F;tiges<lb/>
Da&#x017F;ein dem Umgang der klugen Frau, ihren Belehrun¬<lb/>
gen? Ja, vielleicht war es das, was wie ein Fro&#x017F;<lb/>
fieber ihre Adern durchrie&#x017F;elte. Sie war die che¬<lb/>
mi&#x017F;che Säure gewe&#x017F;en, die aus der jungen Bru&#x017F;t die<lb/>
Begei&#x017F;terung, aus dem Blut die Ela&#x017F;ticität ge&#x017F;ogen,<lb/>
den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Sie<lb/>
wäre untergegangen, das fühlte &#x017F;ie, in die&#x017F;er kalten,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0089] Aber ſie erſchrak über ihre eigenen Worte. Es war eine Rede, geborgt aus einer anderen Stimmung, denn ſie hatte ja eben nicht an das Vaterland, ſie hatte nur an ſich gedacht: Wie ſie dort im kurzen Röckchen unter den Platanen geſpielt, unter den Brom¬ beerſträuchern Hütten gebaut, der kleine grüne Fleck hinter den verkümmerten Tannen war eine Wüſte geweſen, die für ſie kein Ende hatte. Das Wort Waldeinſamkeit war noch nicht Gemeingut, aber ſie hatte die Ahnung und den Begriff. Und dann — durch dieſelbe Allee war ſie ſpäter gefahren, und wenn ſie an die forſchenden Blicke der Neugierigen dachte, die ſie jetzt erſt verſtand, ſchoß das Blut ihr zu Kopf! Aber auch die Obriſtin Malchen und ihre Nichten verſchwanden wieder wie neckende Spukgei¬ ſter hinter den Geſträuchen, in denen die Sonne ihr Gold ausſprenkelte. Wie oft war ſie an der Seite der Geheimräthin hier vorüber gerollt. Warum war dieſe Erinnerung ihr jetzt weit ſchreckhafter? War¬ um rückte ſie in die Ecke des Wagens, als ſcheue ſie vor der Berührung eines Geſpenſtes? Verdankte ſie ihr nicht viel, ſehr viel, ihr ganzes geiſtiges Daſein dem Umgang der klugen Frau, ihren Belehrun¬ gen? Ja, vielleicht war es das, was wie ein Froſt¬ fieber ihre Adern durchrieſelte. Sie war die che¬ miſche Säure geweſen, die aus der jungen Bruſt die Begeiſterung, aus dem Blut die Elaſticität geſogen, den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Sie wäre untergegangen, das fühlte ſie, in dieſer kalten,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/89
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/89>, abgerufen am 10.05.2024.