Zimmer krank war, heilt man nur, wenn man sie dem natürlichen Boden zurückgiebt. Es ist an dem jungen Mädchen zu viel erzogen worden; das rasche, künstliche Einimpfen von Wissenschaft und Grundsätzen hat ihren natürlichen Entwickelungsgang gestört. Diesen muß man wieder herstellen, indem man sie ganz sich selbst überläßt --"
"Und ihren Phantasien" hatte einer der Freunde geantwortet.
Es mußte im Ton ein Vorwurf liegen. We¬ nigstens faßte die Gargazin es so auf, indem sie nach einem Augenblick Nachdenkens entgegnete: "Und warum nicht! Sehnen wir uns nicht Alle zuweilen in die Märchenwelt zurück, wo die Blumen sprechen und die Wälder singen. Ist denn die Unterhaltung am Theetisch so fesselnd, daß wir darum nicht begierig wären, die Stimmen der Vögel zu verstehen! Wir können nicht mehr aus dem Gewühl der Gesellschaft dahin zurück, warum es denen nicht erleichtern, die noch halb im Flügelkleide gehen! Die Phantasie, sich selbst überlassen, schießt giftige Blüthen, will man behaupten. Wie macht denn die Biene den Honig? Keiner lehrt sie, welche Blumen und Kräuter schäd¬ lich, welche den süßen Saft enthalten. Sie nippt den Thau, sie nippt den Duft, sie saugt am Busen der Natur, -- der Mensch soll nicht Instinct haben, wollen sie behaupten, weil der Schöpfer ihm einen besseren Mentor mitgab. Die arme Vernunft, und die noch ärmlichere Erziehungskunst! Was präparirt
Zimmer krank war, heilt man nur, wenn man ſie dem natürlichen Boden zurückgiebt. Es iſt an dem jungen Mädchen zu viel erzogen worden; das raſche, künſtliche Einimpfen von Wiſſenſchaft und Grundſätzen hat ihren natürlichen Entwickelungsgang geſtört. Dieſen muß man wieder herſtellen, indem man ſie ganz ſich ſelbſt überläßt —“
„Und ihren Phantaſien“ hatte einer der Freunde geantwortet.
Es mußte im Ton ein Vorwurf liegen. We¬ nigſtens faßte die Gargazin es ſo auf, indem ſie nach einem Augenblick Nachdenkens entgegnete: „Und warum nicht! Sehnen wir uns nicht Alle zuweilen in die Märchenwelt zurück, wo die Blumen ſprechen und die Wälder ſingen. Iſt denn die Unterhaltung am Theetiſch ſo feſſelnd, daß wir darum nicht begierig wären, die Stimmen der Vögel zu verſtehen! Wir können nicht mehr aus dem Gewühl der Geſellſchaft dahin zurück, warum es denen nicht erleichtern, die noch halb im Flügelkleide gehen! Die Phantaſie, ſich ſelbſt überlaſſen, ſchießt giftige Blüthen, will man behaupten. Wie macht denn die Biene den Honig? Keiner lehrt ſie, welche Blumen und Kräuter ſchäd¬ lich, welche den ſüßen Saft enthalten. Sie nippt den Thau, ſie nippt den Duft, ſie ſaugt am Buſen der Natur, — der Menſch ſoll nicht Inſtinct haben, wollen ſie behaupten, weil der Schöpfer ihm einen beſſeren Mentor mitgab. Die arme Vernunft, und die noch ärmlichere Erziehungskunſt! Was präparirt
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Zimmer krank war, heilt man nur, wenn man ſie
dem natürlichen Boden zurückgiebt. Es iſt an dem
jungen Mädchen zu viel erzogen worden; das raſche,
künſtliche Einimpfen von Wiſſenſchaft und Grundſätzen
hat ihren natürlichen Entwickelungsgang geſtört.
Dieſen muß man wieder herſtellen, indem man ſie
ganz ſich ſelbſt überläßt —“
„Und ihren Phantaſien“ hatte einer der Freunde
geantwortet.
Es mußte im Ton ein Vorwurf liegen. We¬
nigſtens faßte die Gargazin es ſo auf, indem ſie
nach einem Augenblick Nachdenkens entgegnete: „Und
warum nicht! Sehnen wir uns nicht Alle zuweilen in die
Märchenwelt zurück, wo die Blumen ſprechen und
die Wälder ſingen. Iſt denn die Unterhaltung am
Theetiſch ſo feſſelnd, daß wir darum nicht begierig
wären, die Stimmen der Vögel zu verſtehen! Wir
können nicht mehr aus dem Gewühl der Geſellſchaft
dahin zurück, warum es denen nicht erleichtern, die
noch halb im Flügelkleide gehen! Die Phantaſie, ſich
ſelbſt überlaſſen, ſchießt giftige Blüthen, will man
behaupten. Wie macht denn die Biene den Honig?
Keiner lehrt ſie, welche Blumen und Kräuter ſchäd¬
lich, welche den ſüßen Saft enthalten. Sie nippt
den Thau, ſie nippt den Duft, ſie ſaugt am Buſen
der Natur, — der Menſch ſoll nicht Inſtinct haben,
wollen ſie behaupten, weil der Schöpfer ihm einen
beſſeren Mentor mitgab. Die arme Vernunft, und
die noch ärmlichere Erziehungskunſt! Was präparirt
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/80>, abgerufen am 28.11.2024.
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