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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852.

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Hoftracht nicht gemindert. Ein Mann in mittlern
Jahren und stattlicher Figur, stieg er leicht mit den
Bewegungen vornehmer Sicherheit die Treppe hinauf.
Ein Ordensband und Kreuz schien unter der Hals¬
binde versteckt. Ein Band am Knopfloch deutete auf
ein anderes Ehrenzeichen.

Der Fremde hatte die Geheimräthin, die im
Schatten der aufgehenden Thür stand, nicht gesehen.
Einen Augenblick schien sie im Zweifel, ob sie nicht
umkehren solle. Sie fühlte sich wieder wohl. Die
frische Luft im Flur hatte wahrscheinlich gut gewirkt.
Aber -- es schickte sich nicht.

Sie saß im Wagen. Die Thür schlug zu. Sie
lehnte sich in die Ecke und -- weinte. Weil es sich
nicht schickte! -- Darum? -- Und das heißt leben,
fuhr sie auf, unter diesen langweiligen, nüchternen,
abgeschmackten Puppen wandeln, sich kleiden, sprechen,
die Gefühle und Gedanken zusammenhalten, damit
ja nichts entschlüpft, was sich nicht schickt. Und --
darum leben wir!

Der Herr Geheimrath sind noch auf, hörte sie,
im Hause angelangt, aber Sie haben befohlen, es
soll Sie Niemand stören, Sie sind in einer wichtigen
Untersuchung.

Zum ersten Mal, seit wie langer Zeit! fühlte
die Geheimräthin ein Verlangen ihren Mann zu sehen.
Er war doch etwas anders als die Larven in der
Gesellschaft. Er liebte die Menschen in seinen Büchern;
im Vergleich mit jenen war er ein freier Mann,

Hoftracht nicht gemindert. Ein Mann in mittlern
Jahren und ſtattlicher Figur, ſtieg er leicht mit den
Bewegungen vornehmer Sicherheit die Treppe hinauf.
Ein Ordensband und Kreuz ſchien unter der Hals¬
binde verſteckt. Ein Band am Knopfloch deutete auf
ein anderes Ehrenzeichen.

Der Fremde hatte die Geheimräthin, die im
Schatten der aufgehenden Thür ſtand, nicht geſehen.
Einen Augenblick ſchien ſie im Zweifel, ob ſie nicht
umkehren ſolle. Sie fühlte ſich wieder wohl. Die
friſche Luft im Flur hatte wahrſcheinlich gut gewirkt.
Aber — es ſchickte ſich nicht.

Sie ſaß im Wagen. Die Thür ſchlug zu. Sie
lehnte ſich in die Ecke und — weinte. Weil es ſich
nicht ſchickte! — Darum? — Und das heißt leben,
fuhr ſie auf, unter dieſen langweiligen, nüchternen,
abgeſchmackten Puppen wandeln, ſich kleiden, ſprechen,
die Gefühle und Gedanken zuſammenhalten, damit
ja nichts entſchlüpft, was ſich nicht ſchickt. Und —
darum leben wir!

Der Herr Geheimrath ſind noch auf, hörte ſie,
im Hauſe angelangt, aber Sie haben befohlen, es
ſoll Sie Niemand ſtören, Sie ſind in einer wichtigen
Unterſuchung.

Zum erſten Mal, ſeit wie langer Zeit! fühlte
die Geheimräthin ein Verlangen ihren Mann zu ſehen.
Er war doch etwas anders als die Larven in der
Geſellſchaft. Er liebte die Menſchen in ſeinen Büchern;
im Vergleich mit jenen war er ein freier Mann,

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[68/0082] Hoftracht nicht gemindert. Ein Mann in mittlern Jahren und ſtattlicher Figur, ſtieg er leicht mit den Bewegungen vornehmer Sicherheit die Treppe hinauf. Ein Ordensband und Kreuz ſchien unter der Hals¬ binde verſteckt. Ein Band am Knopfloch deutete auf ein anderes Ehrenzeichen. Der Fremde hatte die Geheimräthin, die im Schatten der aufgehenden Thür ſtand, nicht geſehen. Einen Augenblick ſchien ſie im Zweifel, ob ſie nicht umkehren ſolle. Sie fühlte ſich wieder wohl. Die friſche Luft im Flur hatte wahrſcheinlich gut gewirkt. Aber — es ſchickte ſich nicht. Sie ſaß im Wagen. Die Thür ſchlug zu. Sie lehnte ſich in die Ecke und — weinte. Weil es ſich nicht ſchickte! — Darum? — Und das heißt leben, fuhr ſie auf, unter dieſen langweiligen, nüchternen, abgeſchmackten Puppen wandeln, ſich kleiden, ſprechen, die Gefühle und Gedanken zuſammenhalten, damit ja nichts entſchlüpft, was ſich nicht ſchickt. Und — darum leben wir! Der Herr Geheimrath ſind noch auf, hörte ſie, im Hauſe angelangt, aber Sie haben befohlen, es ſoll Sie Niemand ſtören, Sie ſind in einer wichtigen Unterſuchung. Zum erſten Mal, ſeit wie langer Zeit! fühlte die Geheimräthin ein Verlangen ihren Mann zu ſehen. Er war doch etwas anders als die Larven in der Geſellſchaft. Er liebte die Menſchen in ſeinen Büchern; im Vergleich mit jenen war er ein freier Mann,

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/82>, abgerufen am 22.11.2024.