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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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sie bei Aufregungen fast regelmäßig erbreche. Die Untersuchung ergibt
normale Verhältnisse, bis auf einen kleinen Nabelbruch, der seit jeher
der Anlaß zu hypochondrischen Anwandlungen war, und einen völligen
Mangel des Gaumen- und Rachenreflexes. Die Zunge ist nicht belegt,
Übelkeit besteht am Morgen nicht, der Magen ist nicht druckempfind-
lich, Appetit normal. Aus der Anamnese läßt sich nur entnehmen, daß
Patientin ein schwächliches, schlecht essendes Kind war, das in der
Pubertät häufig an Aufstoßen, Singultus und Erbrechen litt. Nach
unseren Darlegungen handelt es sich um eine Minderwertigkeit des Er-
nährungstraktes (Nabelbruch, Reflexanomalie, Anamnese), die durch Über-
kompensation des psychomotorischen Überbaues -- Erbrechen erst bei
psychischen Störungen des Gleichgewichtes -- ausgeglichen wird. Seit
dem 20. Lebensjahre neigt die Patientin zu Adipositas.

Julius P., 45 Jahre alt, Kaufmann, erbricht, wenn er in der Nähe
der Speisen ein Haar oder eine Fliege sieht, zuweilen auch wenn er
bloß daran denkt, manchmal auch im Gefolge eines ärgerlichen Vor-
falles. War in seiner Jugend fast frei von Ekelgefühl, hat ohne Be-
denken die abscheulichsten Dinge in den Mund gesteckt. Ist später ein
Feinschmecker und starker Esser geworden und hat sich aus einem
schlanken Jüngling in einen fettleibigen Mann (105 kg) verwandelt.
Charakteristisch ist ein in ähnlicher Form öfters wiederkehrender Traum,
in welchem ihm jemand unaufhörlich eine widrige Masse in den Mund
stopft, so daß er zu ersticken droht und unter Angst erwacht. Einer
seiner Söhne litt bis zum 15. Lebensjahre an Enuresis und unwillkür-
lichem Kotabgang. Gaumenreflex fehlt, Rachenreflex ist stark vermin-
dert. Auch hier handelt es sich um eine überkompensierte Minderwertig-
keit des Ernährungstraktes mit herabgesetzter peripherer und gestei-
gerter zentraler Reflexfähigkeit.

Anna W., 28 Jahre alt, verheiratet, erbricht bei den geringsten
Aufregungen. Kein Gaumenreflex. Ein Bruder war bis zum 8. Lebens-
jahre Enuretiker und litt an unwillkürlichem Kotabgang. Vater der
Patientin, 54 Jahre alt, leidet angeblich seit jeher an Obstipation. Auch
hier finden wir die Minderwertigkeit des Ernährungstraktes in ver-
schiedener Weise am Stammbaum ausgeprägt, bei der Patientin selbst
gesteigerten zentralen Reflex als Zeichen der Überkompensation.

Die Phänomenologie der gelungenen als auch der miß-
lungenen Überkompensation
wird, wenn sie auch äußerlich von
der der normalen Gehirnentwicklung abweicht, die gleichen Grundzüge,
die gleiche innere Struktur aufweisen. Immer werden unter den Lei-
stungen des zentralen, dem Organ zugehörigen Überbaues zu finden

sie bei Aufregungen fast regelmäßig erbreche. Die Untersuchung ergibt
normale Verhältnisse, bis auf einen kleinen Nabelbruch, der seit jeher
der Anlaß zu hypochondrischen Anwandlungen war, und einen völligen
Mangel des Gaumen- und Rachenreflexes. Die Zunge ist nicht belegt,
Übelkeit besteht am Morgen nicht, der Magen ist nicht druckempfind-
lich, Appetit normal. Aus der Anamnese läßt sich nur entnehmen, daß
Patientin ein schwächliches, schlecht essendes Kind war, das in der
Pubertät häufig an Aufstoßen, Singultus und Erbrechen litt. Nach
unseren Darlegungen handelt es sich um eine Minderwertigkeit des Er-
nährungstraktes (Nabelbruch, Reflexanomalie, Anamnese), die durch Über-
kompensation des psychomotorischen Überbaues — Erbrechen erst bei
psychischen Störungen des Gleichgewichtes — ausgeglichen wird. Seit
dem 20. Lebensjahre neigt die Patientin zu Adipositas.

Julius P., 45 Jahre alt, Kaufmann, erbricht, wenn er in der Nähe
der Speisen ein Haar oder eine Fliege sieht, zuweilen auch wenn er
bloß daran denkt, manchmal auch im Gefolge eines ärgerlichen Vor-
falles. War in seiner Jugend fast frei von Ekelgefühl, hat ohne Be-
denken die abscheulichsten Dinge in den Mund gesteckt. Ist später ein
Feinschmecker und starker Esser geworden und hat sich aus einem
schlanken Jüngling in einen fettleibigen Mann (105 kg) verwandelt.
Charakteristisch ist ein in ähnlicher Form öfters wiederkehrender Traum,
in welchem ihm jemand unaufhörlich eine widrige Masse in den Mund
stopft, so daß er zu ersticken droht und unter Angst erwacht. Einer
seiner Söhne litt bis zum 15. Lebensjahre an Enuresis und unwillkür-
lichem Kotabgang. Gaumenreflex fehlt, Rachenreflex ist stark vermin-
dert. Auch hier handelt es sich um eine überkompensierte Minderwertig-
keit des Ernährungstraktes mit herabgesetzter peripherer und gestei-
gerter zentraler Reflexfähigkeit.

Anna W., 28 Jahre alt, verheiratet, erbricht bei den geringsten
Aufregungen. Kein Gaumenreflex. Ein Bruder war bis zum 8. Lebens-
jahre Enuretiker und litt an unwillkürlichem Kotabgang. Vater der
Patientin, 54 Jahre alt, leidet angeblich seit jeher an Obstipation. Auch
hier finden wir die Minderwertigkeit des Ernährungstraktes in ver-
schiedener Weise am Stammbaum ausgeprägt, bei der Patientin selbst
gesteigerten zentralen Reflex als Zeichen der Überkompensation.

Die Phänomenologie der gelungenen als auch der miß-
lungenen Überkompensation
wird, wenn sie auch äußerlich von
der der normalen Gehirnentwicklung abweicht, die gleichen Grundzüge,
die gleiche innere Struktur aufweisen. Immer werden unter den Lei-
stungen des zentralen, dem Organ zugehörigen Überbaues zu finden

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[68/0080] sie bei Aufregungen fast regelmäßig erbreche. Die Untersuchung ergibt normale Verhältnisse, bis auf einen kleinen Nabelbruch, der seit jeher der Anlaß zu hypochondrischen Anwandlungen war, und einen völligen Mangel des Gaumen- und Rachenreflexes. Die Zunge ist nicht belegt, Übelkeit besteht am Morgen nicht, der Magen ist nicht druckempfind- lich, Appetit normal. Aus der Anamnese läßt sich nur entnehmen, daß Patientin ein schwächliches, schlecht essendes Kind war, das in der Pubertät häufig an Aufstoßen, Singultus und Erbrechen litt. Nach unseren Darlegungen handelt es sich um eine Minderwertigkeit des Er- nährungstraktes (Nabelbruch, Reflexanomalie, Anamnese), die durch Über- kompensation des psychomotorischen Überbaues — Erbrechen erst bei psychischen Störungen des Gleichgewichtes — ausgeglichen wird. Seit dem 20. Lebensjahre neigt die Patientin zu Adipositas. Julius P., 45 Jahre alt, Kaufmann, erbricht, wenn er in der Nähe der Speisen ein Haar oder eine Fliege sieht, zuweilen auch wenn er bloß daran denkt, manchmal auch im Gefolge eines ärgerlichen Vor- falles. War in seiner Jugend fast frei von Ekelgefühl, hat ohne Be- denken die abscheulichsten Dinge in den Mund gesteckt. Ist später ein Feinschmecker und starker Esser geworden und hat sich aus einem schlanken Jüngling in einen fettleibigen Mann (105 kg) verwandelt. Charakteristisch ist ein in ähnlicher Form öfters wiederkehrender Traum, in welchem ihm jemand unaufhörlich eine widrige Masse in den Mund stopft, so daß er zu ersticken droht und unter Angst erwacht. Einer seiner Söhne litt bis zum 15. Lebensjahre an Enuresis und unwillkür- lichem Kotabgang. Gaumenreflex fehlt, Rachenreflex ist stark vermin- dert. Auch hier handelt es sich um eine überkompensierte Minderwertig- keit des Ernährungstraktes mit herabgesetzter peripherer und gestei- gerter zentraler Reflexfähigkeit. Anna W., 28 Jahre alt, verheiratet, erbricht bei den geringsten Aufregungen. Kein Gaumenreflex. Ein Bruder war bis zum 8. Lebens- jahre Enuretiker und litt an unwillkürlichem Kotabgang. Vater der Patientin, 54 Jahre alt, leidet angeblich seit jeher an Obstipation. Auch hier finden wir die Minderwertigkeit des Ernährungstraktes in ver- schiedener Weise am Stammbaum ausgeprägt, bei der Patientin selbst gesteigerten zentralen Reflex als Zeichen der Überkompensation. Die Phänomenologie der gelungenen als auch der miß- lungenen Überkompensation wird, wenn sie auch äußerlich von der der normalen Gehirnentwicklung abweicht, die gleichen Grundzüge, die gleiche innere Struktur aufweisen. Immer werden unter den Lei- stungen des zentralen, dem Organ zugehörigen Überbaues zu finden

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/80>, abgerufen am 02.05.2024.