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Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Nürnberg, 1835.

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Luft war sehr kalt, ich sah mich um, der Wald
war hinter mir verschwunden. Ich machte noch
einige Schritte -- um mich herrschte die Stille
des Todes, unabsehbar dehnte sich das Eis,
worauf ich stand, und worauf ein dichter Nebel
schwer ruhte; die Sonne stand blutig am Rande
des Horizontes. Die Kälte war unerträglich. Ich
wußte nicht, wie mir geschehen war, der erstar-
rende Frost zwang mich, meine Schritte zu be-
schleunigen, ich vernahm nur das Gebrause fer-
ner Gewässer, ein Schritt, und ich war am Eis-
ufer eines Oceans. Unzählbare Heerden von
Seehunden stürzten sich vor mir rauschend in die
Fluth. Ich folgte diesem Ufer, ich sah wieder
nackte Felsen, Land, Birken- und Tannenwälder,
ich lief noch ein paar Minuten gerade vor mir
hin. Es war erstickend heiß, ich sah mich um, ich
stand zwischen schön gebauten Reisfeldern unter
Maulbeerbäumen. Ich setzte mich in deren Schat-
ten, ich sah nach meiner Uhr, ich hatte vor nicht
einer Viertelstunde den Marktflecken verlassen, --
ich glaubte zu träumen, ich biß mich in die Zun-
ge, um mich zu erwecken; aber ich wachte wirk-
lich. -- Ich schloß die Augen zu, um meine Ge-
danken zusammen zu fassen. -- Ich hörte vor

Luft war ſehr kalt, ich ſah mich um, der Wald
war hinter mir verſchwunden. Ich machte noch
einige Schritte — um mich herrſchte die Stille
des Todes, unabſehbar dehnte ſich das Eis,
worauf ich ſtand, und worauf ein dichter Nebel
ſchwer ruhte; die Sonne ſtand blutig am Rande
des Horizontes. Die Kälte war unerträglich. Ich
wußte nicht, wie mir geſchehen war, der erſtar-
rende Froſt zwang mich, meine Schritte zu be-
ſchleunigen, ich vernahm nur das Gebrauſe fer-
ner Gewäſſer, ein Schritt, und ich war am Eis-
ufer eines Oceans. Unzählbare Heerden von
Seehunden ſtürzten ſich vor mir rauſchend in die
Fluth. Ich folgte dieſem Ufer, ich ſah wieder
nackte Felſen, Land, Birken- und Tannenwälder,
ich lief noch ein paar Minuten gerade vor mir
hin. Es war erſtickend heiß, ich ſah mich um, ich
ſtand zwiſchen ſchön gebauten Reisfeldern unter
Maulbeerbäumen. Ich ſetzte mich in deren Schat-
ten, ich ſah nach meiner Uhr, ich hatte vor nicht
einer Viertelſtunde den Marktflecken verlaſſen, —
ich glaubte zu träumen, ich biß mich in die Zun-
ge, um mich zu erwecken; aber ich wachte wirk-
lich. — Ich ſchloß die Augen zu, um meine Ge-
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[125/0143] Luft war ſehr kalt, ich ſah mich um, der Wald war hinter mir verſchwunden. Ich machte noch einige Schritte — um mich herrſchte die Stille des Todes, unabſehbar dehnte ſich das Eis, worauf ich ſtand, und worauf ein dichter Nebel ſchwer ruhte; die Sonne ſtand blutig am Rande des Horizontes. Die Kälte war unerträglich. Ich wußte nicht, wie mir geſchehen war, der erſtar- rende Froſt zwang mich, meine Schritte zu be- ſchleunigen, ich vernahm nur das Gebrauſe fer- ner Gewäſſer, ein Schritt, und ich war am Eis- ufer eines Oceans. Unzählbare Heerden von Seehunden ſtürzten ſich vor mir rauſchend in die Fluth. Ich folgte dieſem Ufer, ich ſah wieder nackte Felſen, Land, Birken- und Tannenwälder, ich lief noch ein paar Minuten gerade vor mir hin. Es war erſtickend heiß, ich ſah mich um, ich ſtand zwiſchen ſchön gebauten Reisfeldern unter Maulbeerbäumen. Ich ſetzte mich in deren Schat- ten, ich ſah nach meiner Uhr, ich hatte vor nicht einer Viertelſtunde den Marktflecken verlaſſen, — ich glaubte zu träumen, ich biß mich in die Zun- ge, um mich zu erwecken; aber ich wachte wirk- lich. — Ich ſchloß die Augen zu, um meine Ge- danken zuſammen zu faſſen. — Ich hörte vor

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Zitationshilfe: Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Nürnberg, 1835, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/19_ZZ_2755/143>, abgerufen am 29.03.2024.