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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
sammen, und selbst zwei von hause aus ganz gesonderte sagenkreise,
wie Ilias und Thebais, traten wenigstens in ein festes verhältnis. das
ionische epos, gepflegt mindestens von 900--700 ohne erkennbar sin-
kende kraft der phantasie, war etwas so überwältigendes aller anderen
sage und dichtung gegenüber, dass sie sich entweder an dasselbe an-
gliedern musste oder in kümmerlicher vereinzelung verdorrte. das galt
namentlich für die reiche und schöne, aber noch ganz formlose sagen-
welt des mutterlandes, das durch die herübernahme des ionischen epos,
wie sie vorhin erzählt ist, zwar das bequemste gefäss erhielt, um seine
eignen gedanken und empfindungen aufzufassen, aber nicht bloss diese
ionisch-episch stilisiren musste, sondern auch seine helden und götter
in die kreise derer einführen, die im ionischen epos herrschten. die
ausdehnung der epischen dichtung im mutterlande kann nicht leicht zu
hoch angeschlagen werden; bis tief in das sechste jahrhundert, ja in
wahrheit noch weiter herab reicht die production, und es werden sowol
neue stoffe in grosser zahl dem epos zugeführt, als auch das vorhandene
überarbeitet. aber so gut wie immer bestrebt man sich nicht nur den
epischen stil inne zu halten, sondern man projicirt alle und jede stim-
mung und strebung der gegenwart in die heroenzeit. wie dem Herakles
neue abenteuer zuwachsen, welche den dorischen colonisationen ent-
sprechen, wie die blüte Korinths die Argonautenfahrt umgestaltet, die aegi-
netischen adlichen ihren ruhm in den zügen der Aeakiden an Herakles
seite finden, die erwerbung Kyrenes sowol an die Argonautensage wie an
die Odyssee angefügt wird, drittens auch ein altthessalisches märchen zu
neuem selbständigen leben bringt, wie die colonien an der Acheloos-
mündung und am golfe von Ambrakia der Thebais einen neuen ausgang
schaffen: so stellt es sich allerorten dar. die gegenwart wird in ihren
eigenen ereignissen und personen vergessen, ihr spiegelbild in die sage
aufgenommen und erst dieses scheint würdig einer fortexistenz. es wäre
eine torheit, wollte man meinen, dass die gegenwärtigen kämpfe und siege
den leuten wertlos gewesen wären, oder dass ihre phantasie nicht auch
daran sich betätigt hätte: die so spät erst aufgezeichneten und doch so
urwüchsig palikarenhaften messenischen freiheitskämpfe, die tragödie des
Kypselidenhauses, Krisas untergang, die geschichten von Rhadina, Othrya-
des, Kleobis und Biton dürften sogar manch einem wertvoller erscheinen
als die bearbeitung der Odyssee oder der Schild des Herakles. es soll wahr-
haftig nicht als eitel segen hingestellt werden, dass die Hellenen jahrhun-
derte lang sich selbst und ihre eigenen taten und leiden der hohen poesie
für unwert gehalten haben. es harmonirt das damit, dass die Peloponnesier

Was ist eine attische tragödie?
sammen, und selbst zwei von hause aus ganz gesonderte sagenkreise,
wie Ilias und Thebais, traten wenigstens in ein festes verhältnis. das
ionische epos, gepflegt mindestens von 900—700 ohne erkennbar sin-
kende kraft der phantasie, war etwas so überwältigendes aller anderen
sage und dichtung gegenüber, daſs sie sich entweder an dasselbe an-
gliedern muſste oder in kümmerlicher vereinzelung verdorrte. das galt
namentlich für die reiche und schöne, aber noch ganz formlose sagen-
welt des mutterlandes, das durch die herübernahme des ionischen epos,
wie sie vorhin erzählt ist, zwar das bequemste gefäſs erhielt, um seine
eignen gedanken und empfindungen aufzufassen, aber nicht bloſs diese
ionisch-episch stilisiren muſste, sondern auch seine helden und götter
in die kreise derer einführen, die im ionischen epos herrschten. die
ausdehnung der epischen dichtung im mutterlande kann nicht leicht zu
hoch angeschlagen werden; bis tief in das sechste jahrhundert, ja in
wahrheit noch weiter herab reicht die production, und es werden sowol
neue stoffe in groſser zahl dem epos zugeführt, als auch das vorhandene
überarbeitet. aber so gut wie immer bestrebt man sich nicht nur den
epischen stil inne zu halten, sondern man projicirt alle und jede stim-
mung und strebung der gegenwart in die heroenzeit. wie dem Herakles
neue abenteuer zuwachsen, welche den dorischen colonisationen ent-
sprechen, wie die blüte Korinths die Argonautenfahrt umgestaltet, die aegi-
netischen adlichen ihren ruhm in den zügen der Aeakiden an Herakles
seite finden, die erwerbung Kyrenes sowol an die Argonautensage wie an
die Odyssee angefügt wird, drittens auch ein altthessalisches märchen zu
neuem selbständigen leben bringt, wie die colonien an der Acheloos-
mündung und am golfe von Ambrakia der Thebais einen neuen ausgang
schaffen: so stellt es sich allerorten dar. die gegenwart wird in ihren
eigenen ereignissen und personen vergessen, ihr spiegelbild in die sage
aufgenommen und erst dieses scheint würdig einer fortexistenz. es wäre
eine torheit, wollte man meinen, daſs die gegenwärtigen kämpfe und siege
den leuten wertlos gewesen wären, oder daſs ihre phantasie nicht auch
daran sich betätigt hätte: die so spät erst aufgezeichneten und doch so
urwüchsig palikarenhaften messenischen freiheitskämpfe, die tragödie des
Kypselidenhauses, Krisas untergang, die geschichten von Rhadina, Othrya-
des, Kleobis und Biton dürften sogar manch einem wertvoller erscheinen
als die bearbeitung der Odyssee oder der Schild des Herakles. es soll wahr-
haftig nicht als eitel segen hingestellt werden, daſs die Hellenen jahrhun-
derte lang sich selbst und ihre eigenen taten und leiden der hohen poesie
für unwert gehalten haben. es harmonirt das damit, daſs die Peloponnesier

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[102/0122] Was ist eine attische tragödie? sammen, und selbst zwei von hause aus ganz gesonderte sagenkreise, wie Ilias und Thebais, traten wenigstens in ein festes verhältnis. das ionische epos, gepflegt mindestens von 900—700 ohne erkennbar sin- kende kraft der phantasie, war etwas so überwältigendes aller anderen sage und dichtung gegenüber, daſs sie sich entweder an dasselbe an- gliedern muſste oder in kümmerlicher vereinzelung verdorrte. das galt namentlich für die reiche und schöne, aber noch ganz formlose sagen- welt des mutterlandes, das durch die herübernahme des ionischen epos, wie sie vorhin erzählt ist, zwar das bequemste gefäſs erhielt, um seine eignen gedanken und empfindungen aufzufassen, aber nicht bloſs diese ionisch-episch stilisiren muſste, sondern auch seine helden und götter in die kreise derer einführen, die im ionischen epos herrschten. die ausdehnung der epischen dichtung im mutterlande kann nicht leicht zu hoch angeschlagen werden; bis tief in das sechste jahrhundert, ja in wahrheit noch weiter herab reicht die production, und es werden sowol neue stoffe in groſser zahl dem epos zugeführt, als auch das vorhandene überarbeitet. aber so gut wie immer bestrebt man sich nicht nur den epischen stil inne zu halten, sondern man projicirt alle und jede stim- mung und strebung der gegenwart in die heroenzeit. wie dem Herakles neue abenteuer zuwachsen, welche den dorischen colonisationen ent- sprechen, wie die blüte Korinths die Argonautenfahrt umgestaltet, die aegi- netischen adlichen ihren ruhm in den zügen der Aeakiden an Herakles seite finden, die erwerbung Kyrenes sowol an die Argonautensage wie an die Odyssee angefügt wird, drittens auch ein altthessalisches märchen zu neuem selbständigen leben bringt, wie die colonien an der Acheloos- mündung und am golfe von Ambrakia der Thebais einen neuen ausgang schaffen: so stellt es sich allerorten dar. die gegenwart wird in ihren eigenen ereignissen und personen vergessen, ihr spiegelbild in die sage aufgenommen und erst dieses scheint würdig einer fortexistenz. es wäre eine torheit, wollte man meinen, daſs die gegenwärtigen kämpfe und siege den leuten wertlos gewesen wären, oder daſs ihre phantasie nicht auch daran sich betätigt hätte: die so spät erst aufgezeichneten und doch so urwüchsig palikarenhaften messenischen freiheitskämpfe, die tragödie des Kypselidenhauses, Krisas untergang, die geschichten von Rhadina, Othrya- des, Kleobis und Biton dürften sogar manch einem wertvoller erscheinen als die bearbeitung der Odyssee oder der Schild des Herakles. es soll wahr- haftig nicht als eitel segen hingestellt werden, daſs die Hellenen jahrhun- derte lang sich selbst und ihre eigenen taten und leiden der hohen poesie für unwert gehalten haben. es harmonirt das damit, daſs die Peloponnesier

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/122>, abgerufen am 27.04.2024.