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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Aristeides.

Wie unhistorisch ist dem gegenüber die vorstellung, dass Aristeides
vor das volk tritt und ihm erzählt was nachher geworden ist, zum guten
teile nach seinem tode. aber die aristotelische schilderung ist noch etwas
schlimmeres als unhistorisch, sie ist perfid. was ist der erfolg der eide,
für die die Ionier die metallklumpen auf der see versenkten? was ist
die lockende zukunft, die Aristeides der gerechte den Athenern vormalt
und verwirklicht? 20000 bürger leben auf kosten der bündner. der
gemeine profit des philisters und die gemeine volksschmeichelei des
demagogen. gewiss, es hat auch in Athen der philister das ideal mit
dem bauche empfunden, er hat sich den spruch an den Erechtheussohn
aietos en nephelesi geneseai emata panta gemütlich so gedeutet, er
sollte in Arkadien für 5 obolen den tag geschwornendienste tun. 63) aber
der philister repraesentirt nicht die nation und am wenigsten ihren poli-
tischen führer, der mit den instincten der gemeinheit rechnen muss, weil
sie für ihn gegeben sind, der aber das grosse nur schafft, indem er den
edeln regungen der volksseele zur macht über die philisterinstincte ver-
hilft, und dem Aristeides soll kein giftiger witz diesen ruhm ver-
kümmern. es ist gewiss witzig, aber es ist auch giftig, dass die ge-
rechtigkeit des gerechtesten schliesslich auf dasselbe hinausläuft wie die
staatskunst der Kallikles und Thrasymachos, auf to tou kreittonos
sumpheron. die scheinbare objectivität, mit der Aristoteles redet, macht
das gift nur ätzender, und es muss zugestanden werden, dass es in seinem
bewusstsein und in seinem munde auch mehr besagt als in dem des
oligarchen, der die 20000 aus öffentlichen mitteln gespeisten männer
zusammengerechnet hat: jener verhöhnte nur das urteil der öffentlichen
meinung über Aristeides den gerechten, dem schon Timokreon diesen
preis gegeben hatte, und der als dikaios auf der bühne des Eupolis
erschienen war. Aristoteles dagegen hatte den Gorgias im gedächtnis,
in dem sein grosser lehrer zwar Miltiades und Themistokles und
Kimon und Perikles geprüft und verworfen hat, aber in dem gross-
artigen schlussbilde des jenseits den Aristeides allein namhaft macht als
einen, dem die schwere tat gelungen, in einer stellung gerecht zu bleiben,
die ihm die reichlichste gelegenheit bot, ungestraft unrecht zu tun, und
der sich dadurch bei den Hellenen einen hohen ruhm erworben (526).
und die gerechtigkeit (um diese ungenügende wiedergabe für die unübersetz-

ist damals gedichtet. die ganze schwere der verantwortung, die ganze tragik des
momentes liegt in diesen worten: das ist die echte prophetie.
63) Ar. Ritt. 797. ist es nicht niedlich, dass dann jemand kommt und aus
diesem zeugnis auf arkadische besoldete geschwornengerichte schliesst?
Aristeides.

Wie unhistorisch ist dem gegenüber die vorstellung, daſs Aristeides
vor das volk tritt und ihm erzählt was nachher geworden ist, zum guten
teile nach seinem tode. aber die aristotelische schilderung ist noch etwas
schlimmeres als unhistorisch, sie ist perfid. was ist der erfolg der eide,
für die die Ionier die metallklumpen auf der see versenkten? was ist
die lockende zukunft, die Aristeides der gerechte den Athenern vormalt
und verwirklicht? 20000 bürger leben auf kosten der bündner. der
gemeine profit des philisters und die gemeine volksschmeichelei des
demagogen. gewiſs, es hat auch in Athen der philister das ideal mit
dem bauche empfunden, er hat sich den spruch an den Erechtheussohn
αἰετὸς ἐν νεφέλῃσι γενήσεαι ἤματα πάντα gemütlich so gedeutet, er
sollte in Arkadien für 5 obolen den tag geschwornendienste tun. 63) aber
der philister repraesentirt nicht die nation und am wenigsten ihren poli-
tischen führer, der mit den instincten der gemeinheit rechnen muſs, weil
sie für ihn gegeben sind, der aber das groſse nur schafft, indem er den
edeln regungen der volksseele zur macht über die philisterinstincte ver-
hilft, und dem Aristeides soll kein giftiger witz diesen ruhm ver-
kümmern. es ist gewiſs witzig, aber es ist auch giftig, daſs die ge-
rechtigkeit des gerechtesten schlieſslich auf dasselbe hinausläuft wie die
staatskunst der Kallikles und Thrasymachos, auf τὸ τοῦ κϱείττονος
συμφέϱον. die scheinbare objectivität, mit der Aristoteles redet, macht
das gift nur ätzender, und es muſs zugestanden werden, daſs es in seinem
bewuſstsein und in seinem munde auch mehr besagt als in dem des
oligarchen, der die 20000 aus öffentlichen mitteln gespeisten männer
zusammengerechnet hat: jener verhöhnte nur das urteil der öffentlichen
meinung über Aristeides den gerechten, dem schon Timokreon diesen
preis gegeben hatte, und der als δίκαιος auf der bühne des Eupolis
erschienen war. Aristoteles dagegen hatte den Gorgias im gedächtnis,
in dem sein groſser lehrer zwar Miltiades und Themistokles und
Kimon und Perikles geprüft und verworfen hat, aber in dem groſs-
artigen schluſsbilde des jenseits den Aristeides allein namhaft macht als
einen, dem die schwere tat gelungen, in einer stellung gerecht zu bleiben,
die ihm die reichlichste gelegenheit bot, ungestraft unrecht zu tun, und
der sich dadurch bei den Hellenen einen hohen ruhm erworben (526).
und die gerechtigkeit (um diese ungenügende wiedergabe für die unübersetz-

ist damals gedichtet. die ganze schwere der verantwortung, die ganze tragik des
momentes liegt in diesen worten: das ist die echte prophetie.
63) Ar. Ritt. 797. ist es nicht niedlich, daſs dann jemand kommt und aus
diesem zeugnis auf arkadische besoldete geschwornengerichte schlieſst?
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[159/0173] Aristeides. Wie unhistorisch ist dem gegenüber die vorstellung, daſs Aristeides vor das volk tritt und ihm erzählt was nachher geworden ist, zum guten teile nach seinem tode. aber die aristotelische schilderung ist noch etwas schlimmeres als unhistorisch, sie ist perfid. was ist der erfolg der eide, für die die Ionier die metallklumpen auf der see versenkten? was ist die lockende zukunft, die Aristeides der gerechte den Athenern vormalt und verwirklicht? 20000 bürger leben auf kosten der bündner. der gemeine profit des philisters und die gemeine volksschmeichelei des demagogen. gewiſs, es hat auch in Athen der philister das ideal mit dem bauche empfunden, er hat sich den spruch an den Erechtheussohn αἰετὸς ἐν νεφέλῃσι γενήσεαι ἤματα πάντα gemütlich so gedeutet, er sollte in Arkadien für 5 obolen den tag geschwornendienste tun. 63) aber der philister repraesentirt nicht die nation und am wenigsten ihren poli- tischen führer, der mit den instincten der gemeinheit rechnen muſs, weil sie für ihn gegeben sind, der aber das groſse nur schafft, indem er den edeln regungen der volksseele zur macht über die philisterinstincte ver- hilft, und dem Aristeides soll kein giftiger witz diesen ruhm ver- kümmern. es ist gewiſs witzig, aber es ist auch giftig, daſs die ge- rechtigkeit des gerechtesten schlieſslich auf dasselbe hinausläuft wie die staatskunst der Kallikles und Thrasymachos, auf τὸ τοῦ κϱείττονος συμφέϱον. die scheinbare objectivität, mit der Aristoteles redet, macht das gift nur ätzender, und es muſs zugestanden werden, daſs es in seinem bewuſstsein und in seinem munde auch mehr besagt als in dem des oligarchen, der die 20000 aus öffentlichen mitteln gespeisten männer zusammengerechnet hat: jener verhöhnte nur das urteil der öffentlichen meinung über Aristeides den gerechten, dem schon Timokreon diesen preis gegeben hatte, und der als δίκαιος auf der bühne des Eupolis erschienen war. Aristoteles dagegen hatte den Gorgias im gedächtnis, in dem sein groſser lehrer zwar Miltiades und Themistokles und Kimon und Perikles geprüft und verworfen hat, aber in dem groſs- artigen schluſsbilde des jenseits den Aristeides allein namhaft macht als einen, dem die schwere tat gelungen, in einer stellung gerecht zu bleiben, die ihm die reichlichste gelegenheit bot, ungestraft unrecht zu tun, und der sich dadurch bei den Hellenen einen hohen ruhm erworben (526). und die gerechtigkeit (um diese ungenügende wiedergabe für die unübersetz- 62) 63) Ar. Ritt. 797. ist es nicht niedlich, daſs dann jemand kommt und aus diesem zeugnis auf arkadische besoldete geschwornengerichte schlieſst? 62) ist damals gedichtet. die ganze schwere der verantwortung, die ganze tragik des momentes liegt in diesen worten: das ist die echte prophetie.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/173>, abgerufen am 26.04.2024.