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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
bare dikaiosune Platons zu brauchen) war ja für den platonischen Staat
die fundamentale tugend, und er hatte dort einen schönen vers des
Aischylos leise umformend den gerechten in dem gefunden, der ou
dokein dikaios all einai thelei.64) für die leser, auf die Aristoteles
rechnen konnte, lag also eine sehr spitze pointe darin, wenn er von
Aristeides sagte dokon dikaiosune ton kath eauton diapherein. 65)

64) Staat 361. 362 nach Sieb. 592. es lag nahe genug, danach den vers auf
den typischen gerechten, Aristeides, anzuwenden, und so ist die anekdote entstanden,
dass die Athener bei der aufführung der Sieben gleich die verse auf Aristeides be-
zogen hätten (Plut. Ar. 3). das glauben die modernen und bauen chronologische
schlüsse darauf. und doch kommt bei Aischylos das wort, um das sich alles
dreht, dikaios, gar nicht vor, sondern er hat ou dokein aristos geschrieben, wie
auch Platon 361 klärlich voraussetzt. wo Plutarch nicht die anekdote erzählt,
sondern die verse um ihrer selbst anführt, citirt er selbst richtig (de aud. poet. 11).
die variante existirt nur in der anekdote und diese nur durch die variante. also
mit deren historischer realität ist es nichts. es sind aber noch zwei schlüsse zu
ziehen. erstens steht in dem auszug aus der stelle des plutarchischen Aristeides
in den Reg. et. Imp. apophth. aristos, d. h. ein beweis dafür, dass dies buch interpolirt
ist, aus dem alle zeit gelesenen drama. zweitens hat der aischyleische Amphiaraos
auch dafür zu leiden gehabt, dass Platon seine charakteristik für die des tugend-
haften verwandt hatte. wir lesen jetzt 609 outos o mantis, uion Oikleous lego,
[sophron dikaios agathos eusebes aner] megas prophetes anosioisi summigeis --
sugkathelkusthesetai. die rede des Eteokles schreitet in wahrheit so vor "wie ein
frommer mann ertrinken muss, wenn er mit frevlern auf demselben schiffe fährt, und
wie ein gerechter bürger in einer stadt von übeltätern mit umkommt, so geht der
grosse seher, obwol er die zukunft kennt, mit dem heere, das trotzdem auf heimkehr
rechnet, zu grunde". da hat das lob der moralischen tüchtigkeit überhaupt keine
stätte, und die vier cardinaltugenden hat erst ein sokratiker hineingebracht.
65) Dem urteil des Aristoteles folgend hat Theophrast ausgeführt, dass Aristeides
nur im privatleben gerecht gewesen wäre, aber aus staatsraison eine andere moral zu-
gelassen hätte (Plut. Ar. 25). zum belege erzählt er die verlegung des schatzes, worin wir
nach den erfahrungen, die wir an Aristoteles machen, nicht mehr als einen groben ana-
chronismus sehen dürfen; vielleicht hat ihn unser oligarch zuerst begangen. der eine an
sich glaubliche zug, dass Samos den antrag auf die verlegung gestellt habe, wird nun
natürlich auch wenig verlässlich. der andere schüler des Aristoteles, Demetrios von
Phaleron, hat, obwol er sich der verarmten familie des Aristeides annahm, den nachweis
geführt, dass dieser nicht unbemittelt gewesen sein könnte, was bei dem archon sicher
ist, obwol die beweise des Demetrios zum teil durch Panaitios widerlegt sind. diese
armut war eine fabel, die durch die existenz der verarmten familie früh entstehen
musste, verbreitung aber erst durch den willkürlichsten novellisten der Sokratik, Aischines,
fand. er hat als pikantes gegenstück den reichen Kallias mit Aristeides verbunden.
erst nach Demetrios, wie man schliessen darf, hat man zur motivirung der verarmung
eine verurteilung erfunden, die Krateros, man sieht nicht weshalb, unbelegt weiter
gegeben hat. das ist also sicher zu beseitigen. aber die andern traditionen über den
tod des Aristeides sind deshalb nicht wahr, weil man sie nicht widerlegen kann. wir

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
bare δικαιοσύνη Platons zu brauchen) war ja für den platonischen Staat
die fundamentale tugend, und er hatte dort einen schönen vers des
Aischylos leise umformend den gerechten in dem gefunden, der οὐ
δοκεῖν δίκαιος ἀλλ̕ εἶναι ϑέλει.64) für die leser, auf die Aristoteles
rechnen konnte, lag also eine sehr spitze pointe darin, wenn er von
Aristeides sagte δοκῶν δικαιοσύνῃ τῶν καϑ̕ ἑαυτὸν διαφέϱειν. 65)

64) Staat 361. 362 nach Sieb. 592. es lag nahe genug, danach den vers auf
den typischen gerechten, Aristeides, anzuwenden, und so ist die anekdote entstanden,
daſs die Athener bei der aufführung der Sieben gleich die verse auf Aristeides be-
zogen hätten (Plut. Ar. 3). das glauben die modernen und bauen chronologische
schlüsse darauf. und doch kommt bei Aischylos das wort, um das sich alles
dreht, δίκαιος, gar nicht vor, sondern er hat οὐ δοκεῖν ἄϱιστος geschrieben, wie
auch Platon 361 klärlich voraussetzt. wo Plutarch nicht die anekdote erzählt,
sondern die verse um ihrer selbst anführt, citirt er selbst richtig (de aud. poet. 11).
die variante existirt nur in der anekdote und diese nur durch die variante. also
mit deren historischer realität ist es nichts. es sind aber noch zwei schlüsse zu
ziehen. erstens steht in dem auszug aus der stelle des plutarchischen Aristeides
in den Reg. et. Imp. apophth. ἄϱιστος, d. h. ein beweis dafür, daſs dies buch interpolirt
ist, aus dem alle zeit gelesenen drama. zweitens hat der aischyleische Amphiaraos
auch dafür zu leiden gehabt, daſs Platon seine charakteristik für die des tugend-
haften verwandt hatte. wir lesen jetzt 609 οὕτως ὁ μάντις, υἱὸν Οἰκλέους λέγω,
[σώφϱων δίκαιος ἀγαϑὸς εὐσεβὴς ἀνήϱ] μέγας πϱοφήτης ἀνοσίοισι συμμιγείς —
συγκαϑελκυσϑήσεται. die rede des Eteokles schreitet in wahrheit so vor “wie ein
frommer mann ertrinken muſs, wenn er mit frevlern auf demselben schiffe fährt, und
wie ein gerechter bürger in einer stadt von übeltätern mit umkommt, so geht der
groſse seher, obwol er die zukunft kennt, mit dem heere, das trotzdem auf heimkehr
rechnet, zu grunde”. da hat das lob der moralischen tüchtigkeit überhaupt keine
stätte, und die vier cardinaltugenden hat erst ein sokratiker hineingebracht.
65) Dem urteil des Aristoteles folgend hat Theophrast ausgeführt, daſs Aristeides
nur im privatleben gerecht gewesen wäre, aber aus staatsraison eine andere moral zu-
gelassen hätte (Plut. Ar. 25). zum belege erzählt er die verlegung des schatzes, worin wir
nach den erfahrungen, die wir an Aristoteles machen, nicht mehr als einen groben ana-
chronismus sehen dürfen; vielleicht hat ihn unser oligarch zuerst begangen. der eine an
sich glaubliche zug, daſs Samos den antrag auf die verlegung gestellt habe, wird nun
natürlich auch wenig verläſslich. der andere schüler des Aristoteles, Demetrios von
Phaleron, hat, obwol er sich der verarmten familie des Aristeides annahm, den nachweis
geführt, daſs dieser nicht unbemittelt gewesen sein könnte, was bei dem archon sicher
ist, obwol die beweise des Demetrios zum teil durch Panaitios widerlegt sind. diese
armut war eine fabel, die durch die existenz der verarmten familie früh entstehen
muſste, verbreitung aber erst durch den willkürlichsten novellisten der Sokratik, Aischines,
fand. er hat als pikantes gegenstück den reichen Kallias mit Aristeides verbunden.
erst nach Demetrios, wie man schlieſsen darf, hat man zur motivirung der verarmung
eine verurteilung erfunden, die Krateros, man sieht nicht weshalb, unbelegt weiter
gegeben hat. das ist also sicher zu beseitigen. aber die andern traditionen über den
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[160/0174] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. bare δικαιοσύνη Platons zu brauchen) war ja für den platonischen Staat die fundamentale tugend, und er hatte dort einen schönen vers des Aischylos leise umformend den gerechten in dem gefunden, der οὐ δοκεῖν δίκαιος ἀλλ̕ εἶναι ϑέλει. 64) für die leser, auf die Aristoteles rechnen konnte, lag also eine sehr spitze pointe darin, wenn er von Aristeides sagte δοκῶν δικαιοσύνῃ τῶν καϑ̕ ἑαυτὸν διαφέϱειν. 65) 64) Staat 361. 362 nach Sieb. 592. es lag nahe genug, danach den vers auf den typischen gerechten, Aristeides, anzuwenden, und so ist die anekdote entstanden, daſs die Athener bei der aufführung der Sieben gleich die verse auf Aristeides be- zogen hätten (Plut. Ar. 3). das glauben die modernen und bauen chronologische schlüsse darauf. und doch kommt bei Aischylos das wort, um das sich alles dreht, δίκαιος, gar nicht vor, sondern er hat οὐ δοκεῖν ἄϱιστος geschrieben, wie auch Platon 361 klärlich voraussetzt. wo Plutarch nicht die anekdote erzählt, sondern die verse um ihrer selbst anführt, citirt er selbst richtig (de aud. poet. 11). die variante existirt nur in der anekdote und diese nur durch die variante. also mit deren historischer realität ist es nichts. es sind aber noch zwei schlüsse zu ziehen. erstens steht in dem auszug aus der stelle des plutarchischen Aristeides in den Reg. et. Imp. apophth. ἄϱιστος, d. h. ein beweis dafür, daſs dies buch interpolirt ist, aus dem alle zeit gelesenen drama. zweitens hat der aischyleische Amphiaraos auch dafür zu leiden gehabt, daſs Platon seine charakteristik für die des tugend- haften verwandt hatte. wir lesen jetzt 609 οὕτως ὁ μάντις, υἱὸν Οἰκλέους λέγω, [σώφϱων δίκαιος ἀγαϑὸς εὐσεβὴς ἀνήϱ] μέγας πϱοφήτης ἀνοσίοισι συμμιγείς — συγκαϑελκυσϑήσεται. die rede des Eteokles schreitet in wahrheit so vor “wie ein frommer mann ertrinken muſs, wenn er mit frevlern auf demselben schiffe fährt, und wie ein gerechter bürger in einer stadt von übeltätern mit umkommt, so geht der groſse seher, obwol er die zukunft kennt, mit dem heere, das trotzdem auf heimkehr rechnet, zu grunde”. da hat das lob der moralischen tüchtigkeit überhaupt keine stätte, und die vier cardinaltugenden hat erst ein sokratiker hineingebracht. 65) Dem urteil des Aristoteles folgend hat Theophrast ausgeführt, daſs Aristeides nur im privatleben gerecht gewesen wäre, aber aus staatsraison eine andere moral zu- gelassen hätte (Plut. Ar. 25). zum belege erzählt er die verlegung des schatzes, worin wir nach den erfahrungen, die wir an Aristoteles machen, nicht mehr als einen groben ana- chronismus sehen dürfen; vielleicht hat ihn unser oligarch zuerst begangen. der eine an sich glaubliche zug, daſs Samos den antrag auf die verlegung gestellt habe, wird nun natürlich auch wenig verläſslich. der andere schüler des Aristoteles, Demetrios von Phaleron, hat, obwol er sich der verarmten familie des Aristeides annahm, den nachweis geführt, daſs dieser nicht unbemittelt gewesen sein könnte, was bei dem archon sicher ist, obwol die beweise des Demetrios zum teil durch Panaitios widerlegt sind. diese armut war eine fabel, die durch die existenz der verarmten familie früh entstehen muſste, verbreitung aber erst durch den willkürlichsten novellisten der Sokratik, Aischines, fand. er hat als pikantes gegenstück den reichen Kallias mit Aristeides verbunden. erst nach Demetrios, wie man schlieſsen darf, hat man zur motivirung der verarmung eine verurteilung erfunden, die Krateros, man sieht nicht weshalb, unbelegt weiter gegeben hat. das ist also sicher zu beseitigen. aber die andern traditionen über den tod des Aristeides sind deshalb nicht wahr, weil man sie nicht widerlegen kann. wir

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/174>, abgerufen am 24.11.2024.