Die menschliche Seele ist vielleicht keines heftigern Schmerzens fähig, als derjenige ist, wenn wir uns ge- nöthiget sehen, den Gegenstand unsrer zärtlichsten Ge- sinnungen zu verachten. Alles was man davon sagen kan ist zu schwach, die Pein auszudrüken, die durch eine so gewaltsame Zerreissung in einem gefühlvollen Her- zen verursacht wird. Wir wollen also lieber gestehen, daß wir uns unvermögend finden, den Tumult der Lei- denschaften, welche in den ersten Stunden nach einer so grausamen Unterredung in dem Gemüthe Agathons wüteten, abzuschildern, als durch eine frostige Beschrei- bung zu gleicher Zeit unsre Vermessenheit und unser Un- vermögen zu verrathen.
Das erste was er that, sobald er seiner selbst wie- der mächtiger wurde, war, daß er alle seine Kräfte an- strengte, sich zu überreden, daß ihn Hippias betrogen habe. War es zuviel, das Schlimmste von einem so un- geheuern Bösewicht zu denken, als dieser Sophist nun- mehr in seinen Augen war? Was für eine Gültigkeit konnte ein solcher Zeuge gegen eine Danae haben? -- Oder vielmehr, was für einen mächtigen Apologisten hat- test du, schöne Danae, in dem Herzen deines Agathon! Was hätte Hyperides selbst, ob er gleich beredt genug
war,
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Achtes Buch, drittes Capitel.
Drittes Capitel. Folgen des Vorhergehenden.
Die menſchliche Seele iſt vielleicht keines heftigern Schmerzens faͤhig, als derjenige iſt, wenn wir uns ge- noͤthiget ſehen, den Gegenſtand unſrer zaͤrtlichſten Ge- ſinnungen zu verachten. Alles was man davon ſagen kan iſt zu ſchwach, die Pein auszudruͤken, die durch eine ſo gewaltſame Zerreiſſung in einem gefuͤhlvollen Her- zen verurſacht wird. Wir wollen alſo lieber geſtehen, daß wir uns unvermoͤgend finden, den Tumult der Lei- denſchaften, welche in den erſten Stunden nach einer ſo grauſamen Unterredung in dem Gemuͤthe Agathons wuͤteten, abzuſchildern, als durch eine froſtige Beſchrei- bung zu gleicher Zeit unſre Vermeſſenheit und unſer Un- vermoͤgen zu verrathen.
Das erſte was er that, ſobald er ſeiner ſelbſt wie- der maͤchtiger wurde, war, daß er alle ſeine Kraͤfte an- ſtrengte, ſich zu uͤberreden, daß ihn Hippias betrogen habe. War es zuviel, das Schlimmſte von einem ſo un- geheuern Boͤſewicht zu denken, als dieſer Sophiſt nun- mehr in ſeinen Augen war? Was fuͤr eine Guͤltigkeit konnte ein ſolcher Zeuge gegen eine Danae haben? — Oder vielmehr, was fuͤr einen maͤchtigen Apologiſten hat- teſt du, ſchoͤne Danae, in dem Herzen deines Agathon! Was haͤtte Hyperides ſelbſt, ob er gleich beredt genug
war,
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Achtes Buch, drittes Capitel.
Drittes Capitel.
Folgen des Vorhergehenden.
Die menſchliche Seele iſt vielleicht keines heftigern
Schmerzens faͤhig, als derjenige iſt, wenn wir uns ge-
noͤthiget ſehen, den Gegenſtand unſrer zaͤrtlichſten Ge-
ſinnungen zu verachten. Alles was man davon ſagen
kan iſt zu ſchwach, die Pein auszudruͤken, die durch
eine ſo gewaltſame Zerreiſſung in einem gefuͤhlvollen Her-
zen verurſacht wird. Wir wollen alſo lieber geſtehen,
daß wir uns unvermoͤgend finden, den Tumult der Lei-
denſchaften, welche in den erſten Stunden nach einer ſo
grauſamen Unterredung in dem Gemuͤthe Agathons
wuͤteten, abzuſchildern, als durch eine froſtige Beſchrei-
bung zu gleicher Zeit unſre Vermeſſenheit und unſer Un-
vermoͤgen zu verrathen.
Das erſte was er that, ſobald er ſeiner ſelbſt wie-
der maͤchtiger wurde, war, daß er alle ſeine Kraͤfte an-
ſtrengte, ſich zu uͤberreden, daß ihn Hippias betrogen
habe. War es zuviel, das Schlimmſte von einem ſo un-
geheuern Boͤſewicht zu denken, als dieſer Sophiſt nun-
mehr in ſeinen Augen war? Was fuͤr eine Guͤltigkeit
konnte ein ſolcher Zeuge gegen eine Danae haben? —
Oder vielmehr, was fuͤr einen maͤchtigen Apologiſten hat-
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/27>, abgerufen am 24.02.2025.
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