Eintheilung Ballade und Romanze und warnt uns, Alles eintheilen zu wollen. Man hat unsern in diesen Formen so reichen Uhland als den Classiker der Romantik bezeichnet; am Marke des Volkslieds genährt, eine gediegene, einfach körnige Natur, die sich doch mit offener Seele den ver- schiedenen Stimmungen der nord- und südfranzösischen, spanischen Romantik, des classischen Alterthums, wie der dunkleren, härteren, biderben altdeutschen Welt öffnet, führt er überall einen scharfen Meisel, der jedem Gesteine klar bestimmte, reine Gestalt gibt. In der Deutlichkeit des Umrisses, welche auch ein ahnungsvoll dunkler Inhalt hiedurch erhält, wird denn die Grenze zwischen Ballade und Romanze, jetzt abgesehen von jener subjectiveren Nebenform der letzteren, der wir einen Theil dieser Gedichte bereits zuge- wiesen haben, nothwendig ungewiß werden. Da, wo mehr Volksliedston ist, kann kein Zweifel sein; aber wohin sollen wir z. B. Ver sacrum zählen und mit ihm die ganze Welt episch lyrischer Gedichte, die im Inhalte bald finster, bald heiter, im Ton und Gang bald dramatisch bewegter, bald milder und heller fließend, doch in der ganzen Form zu classisch durchgebildet sind, zu sichtbar auf classischem Kothurne gehen, um unter Begriffe eingereiht zu werden, die doch immer an die Naivetät der Volkspoesie erinnern? Es bleibt also dabei, daß hier keine zu erschöpfender Eintheilung ausreichende Terminologie besteht.
§. 894.
Die Lyrik der Betrachtung steht auf dem Punct einer beginnenden1. Auflösung des reinen Gefühlszustands, worin derselbe in eine beschauende und beschaute Seite auseinandergeht, die in ein Wechselspiel treten, in welchem die Empfindung mit verhüllter oder ausgesprochener Wehmuth ihrer eben noch warmen und eben verkühlenden Schönheit nachblickt und näher oder entfernter bereits den denkenden Geist durchscheinen läßt. Unter den classischen Formen gehört hieher die Elegie, aus dem Oriente in verschiedener Beziehung die indische und die kunstreichen Bildungen der muhamedanischen Lyrik, aus der romanischen Literatur die verschlungenen Strophen des Sonetts u. a. An der Grenze der2. Prosa liegt als besondere Form das Epigramm und mit ihm eine große, unbestimmte Masse, die sich unter dem Namen der schönen Gedankenpoesie zu- sammenfassen läßt und namentlich der modernen Zeit und der deutschen Poesie angehört.
1. Wir könnten das Wesen dieser Form auch als eine bis an die Grenze der ästhetischen Einheit fortschreitende Entbindung des Gnomischen bezeichnen, wenn wir nicht eben hier der gnomischen Poesie im engeren Sinn uns näherten, die wir doch als besondere Form in den Anhang vom Didaktischen verweisen und mit welcher wir das vorliegende Gebiet nicht
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 88
Eintheilung Ballade und Romanze und warnt uns, Alles eintheilen zu wollen. Man hat unſern in dieſen Formen ſo reichen Uhland als den Claſſiker der Romantik bezeichnet; am Marke des Volkslieds genährt, eine gediegene, einfach körnige Natur, die ſich doch mit offener Seele den ver- ſchiedenen Stimmungen der nord- und ſüdfranzöſiſchen, ſpaniſchen Romantik, des claſſiſchen Alterthums, wie der dunkleren, härteren, biderben altdeutſchen Welt öffnet, führt er überall einen ſcharfen Meiſel, der jedem Geſteine klar beſtimmte, reine Geſtalt gibt. In der Deutlichkeit des Umriſſes, welche auch ein ahnungsvoll dunkler Inhalt hiedurch erhält, wird denn die Grenze zwiſchen Ballade und Romanze, jetzt abgeſehen von jener ſubjectiveren Nebenform der letzteren, der wir einen Theil dieſer Gedichte bereits zuge- wieſen haben, nothwendig ungewiß werden. Da, wo mehr Volksliedston iſt, kann kein Zweifel ſein; aber wohin ſollen wir z. B. Ver sacrum zählen und mit ihm die ganze Welt epiſch lyriſcher Gedichte, die im Inhalte bald finſter, bald heiter, im Ton und Gang bald dramatiſch bewegter, bald milder und heller fließend, doch in der ganzen Form zu claſſiſch durchgebildet ſind, zu ſichtbar auf claſſiſchem Kothurne gehen, um unter Begriffe eingereiht zu werden, die doch immer an die Naivetät der Volkspoeſie erinnern? Es bleibt alſo dabei, daß hier keine zu erſchöpfender Eintheilung ausreichende Terminologie beſteht.
§. 894.
Die Lyrik der Betrachtung ſteht auf dem Punct einer beginnenden1. Auflöſung des reinen Gefühlszuſtands, worin derſelbe in eine beſchauende und beſchaute Seite auseinandergeht, die in ein Wechſelſpiel treten, in welchem die Empfindung mit verhüllter oder ausgeſprochener Wehmuth ihrer eben noch warmen und eben verkühlenden Schönheit nachblickt und näher oder entfernter bereits den denkenden Geiſt durchſcheinen läßt. Unter den claſſiſchen Formen gehört hieher die Elegie, aus dem Oriente in verſchiedener Beziehung die indiſche und die kunſtreichen Bildungen der muhamedaniſchen Lyrik, aus der romaniſchen Literatur die verſchlungenen Strophen des Sonetts u. a. An der Grenze der2. Proſa liegt als beſondere Form das Epigramm und mit ihm eine große, unbeſtimmte Maſſe, die ſich unter dem Namen der ſchönen Gedankenpoeſie zu- ſammenfaſſen läßt und namentlich der modernen Zeit und der deutſchen Poeſie angehört.
1. Wir könnten das Weſen dieſer Form auch als eine bis an die Grenze der äſthetiſchen Einheit fortſchreitende Entbindung des Gnomiſchen bezeichnen, wenn wir nicht eben hier der gnomiſchen Poeſie im engeren Sinn uns näherten, die wir doch als beſondere Form in den Anhang vom Didaktiſchen verweiſen und mit welcher wir das vorliegende Gebiet nicht
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 88
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Eintheilung Ballade und Romanze und warnt uns, Alles eintheilen zu
wollen. Man hat unſern in dieſen Formen ſo reichen Uhland als den
Claſſiker der Romantik bezeichnet; am Marke des Volkslieds genährt, eine
gediegene, einfach körnige Natur, die ſich doch mit offener Seele den ver-
ſchiedenen Stimmungen der nord- und ſüdfranzöſiſchen, ſpaniſchen Romantik,
des claſſiſchen Alterthums, wie der dunkleren, härteren, biderben altdeutſchen
Welt öffnet, führt er überall einen ſcharfen Meiſel, der jedem Geſteine klar
beſtimmte, reine Geſtalt gibt. In der Deutlichkeit des Umriſſes, welche
auch ein ahnungsvoll dunkler Inhalt hiedurch erhält, wird denn die Grenze
zwiſchen Ballade und Romanze, jetzt abgeſehen von jener ſubjectiveren
Nebenform der letzteren, der wir einen Theil dieſer Gedichte bereits zuge-
wieſen haben, nothwendig ungewiß werden. Da, wo mehr Volksliedston
iſt, kann kein Zweifel ſein; aber wohin ſollen wir z. B. Ver sacrum zählen
und mit ihm die ganze Welt epiſch lyriſcher Gedichte, die im Inhalte bald
finſter, bald heiter, im Ton und Gang bald dramatiſch bewegter, bald milder
und heller fließend, doch in der ganzen Form zu claſſiſch durchgebildet ſind,
zu ſichtbar auf claſſiſchem Kothurne gehen, um unter Begriffe eingereiht zu
werden, die doch immer an die Naivetät der Volkspoeſie erinnern? Es
bleibt alſo dabei, daß hier keine zu erſchöpfender Eintheilung ausreichende
Terminologie beſteht.
§. 894.
Die Lyrik der Betrachtung ſteht auf dem Punct einer beginnenden
Auflöſung des reinen Gefühlszuſtands, worin derſelbe in eine beſchauende und
beſchaute Seite auseinandergeht, die in ein Wechſelſpiel treten, in welchem die
Empfindung mit verhüllter oder ausgeſprochener Wehmuth ihrer eben noch warmen
und eben verkühlenden Schönheit nachblickt und näher oder entfernter bereits
den denkenden Geiſt durchſcheinen läßt. Unter den claſſiſchen Formen gehört
hieher die Elegie, aus dem Oriente in verſchiedener Beziehung die indiſche und
die kunſtreichen Bildungen der muhamedaniſchen Lyrik, aus der romaniſchen
Literatur die verſchlungenen Strophen des Sonetts u. a. An der Grenze der
Proſa liegt als beſondere Form das Epigramm und mit ihm eine große,
unbeſtimmte Maſſe, die ſich unter dem Namen der ſchönen Gedankenpoeſie zu-
ſammenfaſſen läßt und namentlich der modernen Zeit und der deutſchen Poeſie
angehört.
1. Wir könnten das Weſen dieſer Form auch als eine bis an die
Grenze der äſthetiſchen Einheit fortſchreitende Entbindung des Gnomiſchen
bezeichnen, wenn wir nicht eben hier der gnomiſchen Poeſie im engeren
Sinn uns näherten, die wir doch als beſondere Form in den Anhang vom
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/231>, abgerufen am 07.07.2024.
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