Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
nein, es gibt auch die großen, aber wie ihnen die Urkraft des eigenen §. 410. Dringt in diese relativ leere Formthätigkeit des Talents die ungetheilte
nein, es gibt auch die großen, aber wie ihnen die Urkraft des eigenen §. 410. Dringt in dieſe relativ leere Formthätigkeit des Talents die ungetheilte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0105" n="391"/> nein, es gibt auch die großen, aber wie ihnen die Urkraft des eigenen<lb/> Gehalts fehlt, ſo fehlt ihnen ſelbſt etwas, ein letzter Druck, das Tüpf-<lb/> chen auf das J. Raphael und Michel Angelo hatten talentvolle Nachah-<lb/> mer ihres großen Styls, aber da fehlt überall etwas wie der Lichtpunkt<lb/> im Auge, und ſo iſt es auch bei den Talenten, die Göthe und Schiller<lb/> nachahmten, Ernſt Wagner, Beer, Schenk und Andern. In dieſem Sinn<lb/> iſt das Talent der iſolirte Techniker der Phantaſie. J. Paul ſagt von<lb/> ihm (a. a. O. §. 9): „in der Poeſie wirkt das Talent mit einzelnen<lb/> Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reitzen auf das Volk und<lb/> ergreift gewaltig mit ſeinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer<lb/> Spießbürgerſeele iſt, denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht<lb/> Geiſt u. ſ. w. — Es gibt kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen<lb/> Gedanken des Genies, worauf das Talent im höchſten Feuer nicht auch<lb/> käme, nur auf das Ganze nicht.“ Es fehlt aber nicht nur im Ganzen;<lb/> dieſes kann bequem und rund ſein, es fehlt in allem Einzelnen und am<lb/> meiſten in den Hauptſtellen (Hauptgruppen, ſchlagenden Kataſtrophen<lb/> u. ſ. w.), wo der Blitz der Idee durchbrechen ſollte. Es begreift ſich nun,<lb/> wie das Talent unter allen Mängeln (§. 406) in die, welche von einem<lb/> Ueberſchuß an Gehalt rühren, am wenigſten gerathen wird, doch kann<lb/> ihm mitunter auch die Leichtigkeit der Form plötzlich verſiegen und die ſo<lb/> entſtehenden Lagunen füllt dann irgend ein Gehalt proſaiſch und dürftig<lb/> aus, wie denn z. B. Eugen Sue, ganz Talent, zwiſchenein predigt, lehrt. So<lb/> wird auch Ueberſchwang des Gefühls, gewaltſame Trunkenheit oder fühlbare<lb/> Abſichtlichkeit eintreten; die Mängel und Fehler aber, welche endemiſch im<lb/> Gebiete des Talents herrſchen, ſind die der Einbildungskraft; denn da<lb/> es auf relativer Trennbarkeit der Form vom Gehalte ruht, ſo bewegt es<lb/> ſich in ihrer Syntheſe mit vorherrſchender Naturtreue, Breite, Ueppigkeit,<lb/> ſchweifendem Taumel, ſtoffartiger Wirkung der Bilder. Der Effect iſt<lb/> ihm gewiß, es gefällt und wird, um pikanter zu wirken, leicht häßlich;<lb/> es kann ſich ja jeder, alſo auch der verkehrte Gehalt in ſeine leicht ge-<lb/> arbeiteten Maſken ſtecken, dieſer wird ſie aber auch zu Larven verdrehen.<lb/> Daher behält es aber immer die <hi rendition="#g">gemeine</hi> Beſonnenheit und bewahrt<lb/> ſich leicht vor einzelnen Nachläſſigkeiten, die dem Genie mitunterlaufen.<lb/> Nun iſt auch klar, warum Beſchränkung auf einen vereinzelten Zweig<lb/> am wenigſten das Talent charakteriſirt; anempfindend wirft es ſich leicht<lb/> in die verſchiedenſten, legt aber in keinen eine neue Weltanſchauung, ſchafft<lb/> daher, nachahmend wie es iſt, auch keine neue weltbezwingende Form.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 410.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Dringt in dieſe relativ leere Formthätigkeit des Talents die ungetheilte<lb/> Fülle der Phantaſie mit der Urkraft der Formen, welche Ausdruck großen und<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [391/0105]
nein, es gibt auch die großen, aber wie ihnen die Urkraft des eigenen
Gehalts fehlt, ſo fehlt ihnen ſelbſt etwas, ein letzter Druck, das Tüpf-
chen auf das J. Raphael und Michel Angelo hatten talentvolle Nachah-
mer ihres großen Styls, aber da fehlt überall etwas wie der Lichtpunkt
im Auge, und ſo iſt es auch bei den Talenten, die Göthe und Schiller
nachahmten, Ernſt Wagner, Beer, Schenk und Andern. In dieſem Sinn
iſt das Talent der iſolirte Techniker der Phantaſie. J. Paul ſagt von
ihm (a. a. O. §. 9): „in der Poeſie wirkt das Talent mit einzelnen
Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reitzen auf das Volk und
ergreift gewaltig mit ſeinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer
Spießbürgerſeele iſt, denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht
Geiſt u. ſ. w. — Es gibt kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen
Gedanken des Genies, worauf das Talent im höchſten Feuer nicht auch
käme, nur auf das Ganze nicht.“ Es fehlt aber nicht nur im Ganzen;
dieſes kann bequem und rund ſein, es fehlt in allem Einzelnen und am
meiſten in den Hauptſtellen (Hauptgruppen, ſchlagenden Kataſtrophen
u. ſ. w.), wo der Blitz der Idee durchbrechen ſollte. Es begreift ſich nun,
wie das Talent unter allen Mängeln (§. 406) in die, welche von einem
Ueberſchuß an Gehalt rühren, am wenigſten gerathen wird, doch kann
ihm mitunter auch die Leichtigkeit der Form plötzlich verſiegen und die ſo
entſtehenden Lagunen füllt dann irgend ein Gehalt proſaiſch und dürftig
aus, wie denn z. B. Eugen Sue, ganz Talent, zwiſchenein predigt, lehrt. So
wird auch Ueberſchwang des Gefühls, gewaltſame Trunkenheit oder fühlbare
Abſichtlichkeit eintreten; die Mängel und Fehler aber, welche endemiſch im
Gebiete des Talents herrſchen, ſind die der Einbildungskraft; denn da
es auf relativer Trennbarkeit der Form vom Gehalte ruht, ſo bewegt es
ſich in ihrer Syntheſe mit vorherrſchender Naturtreue, Breite, Ueppigkeit,
ſchweifendem Taumel, ſtoffartiger Wirkung der Bilder. Der Effect iſt
ihm gewiß, es gefällt und wird, um pikanter zu wirken, leicht häßlich;
es kann ſich ja jeder, alſo auch der verkehrte Gehalt in ſeine leicht ge-
arbeiteten Maſken ſtecken, dieſer wird ſie aber auch zu Larven verdrehen.
Daher behält es aber immer die gemeine Beſonnenheit und bewahrt
ſich leicht vor einzelnen Nachläſſigkeiten, die dem Genie mitunterlaufen.
Nun iſt auch klar, warum Beſchränkung auf einen vereinzelten Zweig
am wenigſten das Talent charakteriſirt; anempfindend wirft es ſich leicht
in die verſchiedenſten, legt aber in keinen eine neue Weltanſchauung, ſchafft
daher, nachahmend wie es iſt, auch keine neue weltbezwingende Form.
§. 410.
Dringt in dieſe relativ leere Formthätigkeit des Talents die ungetheilte
Fülle der Phantaſie mit der Urkraft der Formen, welche Ausdruck großen und
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