das Ungeheure des Vorgangs, man sieht, welches Chaos einbricht, wenn die sittliche Welt zerrüttet wird. Der Charakter aber wird sich gegen sein Andringen zu behaupten wissen; Lear ist im strengen Sinne kein Charakter; "er war immer ohne Selbstkenntniß." Zudem versteht sich, daß wir von geistig motivirtem Wahnsinn reden und zwar in dem Sinne, daß das Motiv eben in dem Vorgange liegt, der den ästhetischen Stoff bildet.
§. 338.
Es ist die That und die sie begleitende Rede, worin der Charakter seinem inneren Leben den wahren Ausdruck gibt. Aesthetisch sind aber diese nur, sofern auch die leibliche Gestalt als ihr Organ der Anschauung gegeben ist, und diese wird, weil sie die eigene des Charakters ist, dasselbe aussprechen, was die Reden und Thaten. Der Charakter ruht auf der Natur-Anlage als einer Voraussetzung (§. 331. 332); vorerst wird also diese sich in der Gestalt aussprechen und zwar zunächst in der Ruhe durch ihre festen Formen (und Farben): Physiognomik. Die Physiognomik kann keine Wissenschaft sein, welche Sätze aufstellt, sondern nur je in dem Momente, wo das Bild eines Charakters der Anschauung gegeben ist, faßt diese das unberechenbare Inein- ander seiner Züge zusammen und ergreift in Einem Acte die angeborne Sinnesart mit ihrem leiblichen Ausdruck ebenso, wie die Natur, ohne eine festgestellte Buchstabenschrift, beide Seiten in Einem Acte entwirft.
Wir müssen die Physiognomik zweimal aufführen: hier als Deutungs- kunde des Angebornen im Charakter aus den Zügen seiner Gestalt; erst nachdem von der Pathognomik die Rede gewesen sein wird, haben wir von den Zügen zu sprechen, welche die freie Arbeit des Willens der Gestalt einprägt. Wäre die Physiognomik als System der Wahrsagerei auch noch nicht widerlegt, wie sie es (vorzüglich durch Lichtenberg) ist, so dürften wir nur darauf aufmerksam machen, daß schon die Verschlingung der angebornen und der durch Gewohnheit und Willen eingeimpften Züge sie aufhebt. Wir lassen also die Frage nach den letzteren noch bei Seite. Auf den dunkeln Punkt zurückzugehen, in welchem die Natur mit Einem Schlage das sittliche und das sinnliche Bild eines Menschen anlegt, war ein wesentlicher Ausdruck jener Zeit, da Lavater auftrat, da man sich sehnte, in die Mitte des Lebens, in das volle Ganze einzudringen. Aber man überstürzte sich, warf sich in Prophetenton und prahlte mit einer verwegenen Menschenkennerei. Nicht um einen Schluß von dem Aeußeren auf das Innere kann es sich hier handeln, nicht darum, den Charakter einer übrigens unbekannten Person, die vor uns tritt, aus ihren Zügen zu errathen. Die Aesthetik setzt voraus, daß die erscheinende Individualität,
das Ungeheure des Vorgangs, man ſieht, welches Chaos einbricht, wenn die ſittliche Welt zerrüttet wird. Der Charakter aber wird ſich gegen ſein Andringen zu behaupten wiſſen; Lear iſt im ſtrengen Sinne kein Charakter; „er war immer ohne Selbſtkenntniß.“ Zudem verſteht ſich, daß wir von geiſtig motivirtem Wahnſinn reden und zwar in dem Sinne, daß das Motiv eben in dem Vorgange liegt, der den äſthetiſchen Stoff bildet.
§. 338.
Es iſt die That und die ſie begleitende Rede, worin der Charakter ſeinem inneren Leben den wahren Ausdruck gibt. Aeſthetiſch ſind aber dieſe nur, ſofern auch die leibliche Geſtalt als ihr Organ der Anſchauung gegeben iſt, und dieſe wird, weil ſie die eigene des Charakters iſt, dasſelbe ausſprechen, was die Reden und Thaten. Der Charakter ruht auf der Natur-Anlage als einer Vorausſetzung (§. 331. 332); vorerſt wird alſo dieſe ſich in der Geſtalt ausſprechen und zwar zunächſt in der Ruhe durch ihre feſten Formen (und Farben): Phyſiognomik. Die Phyſiognomik kann keine Wiſſenſchaft ſein, welche Sätze aufſtellt, ſondern nur je in dem Momente, wo das Bild eines Charakters der Anſchauung gegeben iſt, faßt dieſe das unberechenbare Inein- ander ſeiner Züge zuſammen und ergreift in Einem Acte die angeborne Sinnesart mit ihrem leiblichen Ausdruck ebenſo, wie die Natur, ohne eine feſtgeſtellte Buchſtabenſchrift, beide Seiten in Einem Acte entwirft.
Wir müſſen die Phyſiognomik zweimal aufführen: hier als Deutungs- kunde des Angebornen im Charakter aus den Zügen ſeiner Geſtalt; erſt nachdem von der Pathognomik die Rede geweſen ſein wird, haben wir von den Zügen zu ſprechen, welche die freie Arbeit des Willens der Geſtalt einprägt. Wäre die Phyſiognomik als Syſtem der Wahrſagerei auch noch nicht widerlegt, wie ſie es (vorzüglich durch Lichtenberg) iſt, ſo dürften wir nur darauf aufmerkſam machen, daß ſchon die Verſchlingung der angebornen und der durch Gewohnheit und Willen eingeimpften Züge ſie aufhebt. Wir laſſen alſo die Frage nach den letzteren noch bei Seite. Auf den dunkeln Punkt zurückzugehen, in welchem die Natur mit Einem Schlage das ſittliche und das ſinnliche Bild eines Menſchen anlegt, war ein weſentlicher Ausdruck jener Zeit, da Lavater auftrat, da man ſich ſehnte, in die Mitte des Lebens, in das volle Ganze einzudringen. Aber man überſtürzte ſich, warf ſich in Prophetenton und prahlte mit einer verwegenen Menſchenkennerei. Nicht um einen Schluß von dem Aeußeren auf das Innere kann es ſich hier handeln, nicht darum, den Charakter einer übrigens unbekannten Perſon, die vor uns tritt, aus ihren Zügen zu errathen. Die Aeſthetik ſetzt voraus, daß die erſcheinende Individualität,
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das Ungeheure des Vorgangs, man ſieht, welches Chaos einbricht, wenn
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Andringen zu behaupten wiſſen; Lear iſt im ſtrengen Sinne kein Charakter;
„er war immer ohne Selbſtkenntniß.“ Zudem verſteht ſich, daß wir von
geiſtig motivirtem Wahnſinn reden und zwar in dem Sinne, daß das
Motiv eben in dem Vorgange liegt, der den äſthetiſchen Stoff bildet.
§. 338.
Es iſt die That und die ſie begleitende Rede, worin der Charakter
ſeinem inneren Leben den wahren Ausdruck gibt. Aeſthetiſch ſind aber dieſe
nur, ſofern auch die leibliche Geſtalt als ihr Organ der Anſchauung gegeben
iſt, und dieſe wird, weil ſie die eigene des Charakters iſt, dasſelbe ausſprechen,
was die Reden und Thaten. Der Charakter ruht auf der Natur-Anlage als
einer Vorausſetzung (§. 331. 332); vorerſt wird alſo dieſe ſich in der Geſtalt
ausſprechen und zwar zunächſt in der Ruhe durch ihre feſten Formen (und
Farben): Phyſiognomik. Die Phyſiognomik kann keine Wiſſenſchaft ſein,
welche Sätze aufſtellt, ſondern nur je in dem Momente, wo das Bild eines
Charakters der Anſchauung gegeben iſt, faßt dieſe das unberechenbare Inein-
ander ſeiner Züge zuſammen und ergreift in Einem Acte die angeborne Sinnesart
mit ihrem leiblichen Ausdruck ebenſo, wie die Natur, ohne eine feſtgeſtellte
Buchſtabenſchrift, beide Seiten in Einem Acte entwirft.
Wir müſſen die Phyſiognomik zweimal aufführen: hier als Deutungs-
kunde des Angebornen im Charakter aus den Zügen ſeiner Geſtalt; erſt
nachdem von der Pathognomik die Rede geweſen ſein wird, haben wir
von den Zügen zu ſprechen, welche die freie Arbeit des Willens der
Geſtalt einprägt. Wäre die Phyſiognomik als Syſtem der Wahrſagerei
auch noch nicht widerlegt, wie ſie es (vorzüglich durch Lichtenberg) iſt,
ſo dürften wir nur darauf aufmerkſam machen, daß ſchon die Verſchlingung
der angebornen und der durch Gewohnheit und Willen eingeimpften Züge
ſie aufhebt. Wir laſſen alſo die Frage nach den letzteren noch bei Seite.
Auf den dunkeln Punkt zurückzugehen, in welchem die Natur mit Einem
Schlage das ſittliche und das ſinnliche Bild eines Menſchen anlegt, war
ein weſentlicher Ausdruck jener Zeit, da Lavater auftrat, da man ſich
ſehnte, in die Mitte des Lebens, in das volle Ganze einzudringen. Aber
man überſtürzte ſich, warf ſich in Prophetenton und prahlte mit einer
verwegenen Menſchenkennerei. Nicht um einen Schluß von dem Aeußeren
auf das Innere kann es ſich hier handeln, nicht darum, den Charakter
einer übrigens unbekannten Perſon, die vor uns tritt, aus ihren Zügen
zu errathen. Die Aeſthetik ſetzt voraus, daß die erſcheinende Individualität,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/218>, abgerufen am 16.07.2024.
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