Gesicht nur Vehikel ist) aufgenommen wird. Die Antwort ist aber in dem Satze vorbereitet, daß alle Sinne als innerlich gesetzte wiederkehren; ein Satz, der jedoch erst in der Lehre von der Phantasie seine Auefüh- rung zu erwarten hat. Hier ist es dann auch, wo die stoffartigen Sinne als mitanklingende Saiten ästhetische Berechtigung erhalten werden. Dies Zusammentönen aller Sinne ist aber nichts Anderes, als der Reflex des Ineinanderseyns aller Bestimmtheiten der sich verwirklichenden Idee.
§. 72.
Die sinnliche Bestimmtheit des Gegenstands ist aber nichts Anderes, als die durchsichtige Form der in ihm erscheinenden Idee. Die Idee ist absolute Thätigkeit und daher Bewegung im weitesten Sinne; der Gegenstand erscheint daher wesentlich als ein bewegter. Diese Bewegung ist aber zugleich eine Be- wegung zum Subjecte, das wie der Gegenstand wirkliche Idee in der Form sinnlicher Bestimmtheit ist. Nun ist aber im Gegenstande die Form von der Idee so durchdrungen, daß seine Zufälligkeit freigelassen und in die Idee mit vollkommener Zwanglosigkeit harmonisch aufgenommen ist. Das Subject sucht die- selbe freie Harmonie und diesem Suchen fließt der Gegenstand durchaus homogen entgegen, indem er es durch die Sinnlichkeit und in derselben geistig erfüllt und befriedigt. Diese Bewegung im Schönen als harmonisches Hinüberfließen in das Subject heißt Anmuth oder Grazie.
Lessing hatte zuerst die Anmuth (er sagt: Reiz, wovon nachher) als Schönheit in der Bewegung definirt (Laocoon Cap. 21). Er meint wirkliche Bewegung, die er ausdrücklich der blosen Form und Farbe entgegenstellt. Schiller (Anmuth und Würde) faßt den Begriff ebenso, er bestimmt nur genauer, welche Bewegung die anmuthige sey. Wie Lessing hat er hiebei nur den Menschen im Auge. Er unterscheidet nun die Anmuth von der durch die Natur geschenkten architektonischen Schönheit der festen Formen und sucht ihren inneren Grund in der Schönheit der Scele, welcher die Tugend zur Neigung, zur Natur ge- worden ist, in dem harmonischen Gemüthe, in welchem zum sittlichen Impulse die Sinnlichkeit frei und unbewußt zustimmt; ihre Erscheinung aber findet er in denjenigen Bewegungen, welche die willkürlichen un- willkürlich begleiten als Ausdruck weder einer ausdrücklichen Willensbe- stimmung noch eines blosen Naturtriebs, sondern der unbewußt mitan- klingenden Empfindung, und welche er daher die sympathetischen nennt
Geſicht nur Vehikel iſt) aufgenommen wird. Die Antwort iſt aber in dem Satze vorbereitet, daß alle Sinne als innerlich geſetzte wiederkehren; ein Satz, der jedoch erſt in der Lehre von der Phantaſie ſeine Auefüh- rung zu erwarten hat. Hier iſt es dann auch, wo die ſtoffartigen Sinne als mitanklingende Saiten äſthetiſche Berechtigung erhalten werden. Dies Zuſammentönen aller Sinne iſt aber nichts Anderes, als der Reflex des Ineinanderſeyns aller Beſtimmtheiten der ſich verwirklichenden Idee.
§. 72.
Die ſinnliche Beſtimmtheit des Gegenſtands iſt aber nichts Anderes, als die durchſichtige Form der in ihm erſcheinenden Idee. Die Idee iſt abſolute Thätigkeit und daher Bewegung im weiteſten Sinne; der Gegenſtand erſcheint daher weſentlich als ein bewegter. Dieſe Bewegung iſt aber zugleich eine Be- wegung zum Subjecte, das wie der Gegenſtand wirkliche Idee in der Form ſinnlicher Beſtimmtheit iſt. Nun iſt aber im Gegenſtande die Form von der Idee ſo durchdrungen, daß ſeine Zufälligkeit freigelaſſen und in die Idee mit vollkommener Zwangloſigkeit harmoniſch aufgenommen iſt. Das Subject ſucht die- ſelbe freie Harmonie und dieſem Suchen fließt der Gegenſtand durchaus homogen entgegen, indem er es durch die Sinnlichkeit und in derſelben geiſtig erfüllt und befriedigt. Dieſe Bewegung im Schönen als harmoniſches Hinüberfließen in das Subject heißt Anmuth oder Grazie.
Leſſing hatte zuerſt die Anmuth (er ſagt: Reiz, wovon nachher) als Schönheit in der Bewegung definirt (Laocoon Cap. 21). Er meint wirkliche Bewegung, die er ausdrücklich der bloſen Form und Farbe entgegenſtellt. Schiller (Anmuth und Würde) faßt den Begriff ebenſo, er beſtimmt nur genauer, welche Bewegung die anmuthige ſey. Wie Leſſing hat er hiebei nur den Menſchen im Auge. Er unterſcheidet nun die Anmuth von der durch die Natur geſchenkten architektoniſchen Schönheit der feſten Formen und ſucht ihren inneren Grund in der Schönheit der Scele, welcher die Tugend zur Neigung, zur Natur ge- worden iſt, in dem harmoniſchen Gemüthe, in welchem zum ſittlichen Impulſe die Sinnlichkeit frei und unbewußt zuſtimmt; ihre Erſcheinung aber findet er in denjenigen Bewegungen, welche die willkürlichen un- willkürlich begleiten als Ausdruck weder einer ausdrücklichen Willensbe- ſtimmung noch eines bloſen Naturtriebs, ſondern der unbewußt mitan- klingenden Empfindung, und welche er daher die ſympathetiſchen nennt
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0198"n="184"/>
Geſicht nur Vehikel iſt) aufgenommen wird. Die Antwort iſt aber in<lb/>
dem Satze vorbereitet, daß alle Sinne als innerlich geſetzte wiederkehren;<lb/>
ein Satz, der jedoch erſt in der Lehre von der Phantaſie ſeine Auefüh-<lb/>
rung zu erwarten hat. Hier iſt es dann auch, wo die ſtoffartigen Sinne<lb/>
als mitanklingende Saiten äſthetiſche Berechtigung erhalten werden. Dies<lb/>
Zuſammentönen aller Sinne iſt aber nichts Anderes, als der Reflex des<lb/>
Ineinanderſeyns aller Beſtimmtheiten der ſich verwirklichenden Idee.</hi></p></div><lb/><divn="4"><head>§. 72.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Die ſinnliche Beſtimmtheit des Gegenſtands iſt aber nichts Anderes, als<lb/>
die durchſichtige Form der in ihm erſcheinenden Idee. Die Idee iſt abſolute<lb/>
Thätigkeit und daher Bewegung im weiteſten Sinne; der Gegenſtand erſcheint<lb/>
daher weſentlich als ein bewegter. Dieſe Bewegung iſt aber zugleich eine Be-<lb/>
wegung zum Subjecte, das wie der Gegenſtand wirkliche Idee in der Form<lb/>ſinnlicher Beſtimmtheit iſt. Nun iſt aber im Gegenſtande die Form von der<lb/>
Idee ſo durchdrungen, daß ſeine Zufälligkeit freigelaſſen und in die Idee mit<lb/>
vollkommener Zwangloſigkeit harmoniſch aufgenommen iſt. Das Subject ſucht die-<lb/>ſelbe freie Harmonie und dieſem Suchen fließt der Gegenſtand durchaus homogen<lb/>
entgegen, indem er es durch die Sinnlichkeit und in derſelben geiſtig erfüllt und<lb/>
befriedigt. Dieſe Bewegung im Schönen als harmoniſches Hinüberfließen in<lb/>
das Subject heißt <hirendition="#g">Anmuth</hi> oder <hirendition="#g">Grazie.</hi></hi></p><lb/><p><hirendition="#et"><hirendition="#g">Leſſing</hi> hatte zuerſt die Anmuth (er ſagt: Reiz, wovon nachher)<lb/>
als Schönheit in der Bewegung definirt (Laocoon Cap. 21). Er meint<lb/>
wirkliche Bewegung, die er ausdrücklich der bloſen Form und Farbe<lb/>
entgegenſtellt. <hirendition="#g">Schiller</hi> (Anmuth und Würde) faßt den Begriff ebenſo,<lb/>
er beſtimmt nur genauer, welche Bewegung die anmuthige ſey. Wie<lb/><hirendition="#g">Leſſing</hi> hat er hiebei nur den Menſchen im Auge. Er unterſcheidet<lb/>
nun die Anmuth von der durch die Natur geſchenkten architektoniſchen<lb/>
Schönheit der feſten Formen und ſucht ihren inneren Grund in der<lb/>
Schönheit der Scele, welcher die Tugend zur Neigung, zur Natur ge-<lb/>
worden iſt, in dem harmoniſchen Gemüthe, in welchem zum ſittlichen<lb/>
Impulſe die Sinnlichkeit frei und unbewußt zuſtimmt; ihre Erſcheinung<lb/>
aber findet er in denjenigen Bewegungen, welche die willkürlichen un-<lb/>
willkürlich begleiten als Ausdruck weder einer ausdrücklichen Willensbe-<lb/>ſtimmung noch eines bloſen Naturtriebs, ſondern der unbewußt mitan-<lb/>
klingenden Empfindung, und welche er daher die <hirendition="#g">ſympathetiſchen</hi> nennt<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[184/0198]
Geſicht nur Vehikel iſt) aufgenommen wird. Die Antwort iſt aber in
dem Satze vorbereitet, daß alle Sinne als innerlich geſetzte wiederkehren;
ein Satz, der jedoch erſt in der Lehre von der Phantaſie ſeine Auefüh-
rung zu erwarten hat. Hier iſt es dann auch, wo die ſtoffartigen Sinne
als mitanklingende Saiten äſthetiſche Berechtigung erhalten werden. Dies
Zuſammentönen aller Sinne iſt aber nichts Anderes, als der Reflex des
Ineinanderſeyns aller Beſtimmtheiten der ſich verwirklichenden Idee.
§. 72.
Die ſinnliche Beſtimmtheit des Gegenſtands iſt aber nichts Anderes, als
die durchſichtige Form der in ihm erſcheinenden Idee. Die Idee iſt abſolute
Thätigkeit und daher Bewegung im weiteſten Sinne; der Gegenſtand erſcheint
daher weſentlich als ein bewegter. Dieſe Bewegung iſt aber zugleich eine Be-
wegung zum Subjecte, das wie der Gegenſtand wirkliche Idee in der Form
ſinnlicher Beſtimmtheit iſt. Nun iſt aber im Gegenſtande die Form von der
Idee ſo durchdrungen, daß ſeine Zufälligkeit freigelaſſen und in die Idee mit
vollkommener Zwangloſigkeit harmoniſch aufgenommen iſt. Das Subject ſucht die-
ſelbe freie Harmonie und dieſem Suchen fließt der Gegenſtand durchaus homogen
entgegen, indem er es durch die Sinnlichkeit und in derſelben geiſtig erfüllt und
befriedigt. Dieſe Bewegung im Schönen als harmoniſches Hinüberfließen in
das Subject heißt Anmuth oder Grazie.
Leſſing hatte zuerſt die Anmuth (er ſagt: Reiz, wovon nachher)
als Schönheit in der Bewegung definirt (Laocoon Cap. 21). Er meint
wirkliche Bewegung, die er ausdrücklich der bloſen Form und Farbe
entgegenſtellt. Schiller (Anmuth und Würde) faßt den Begriff ebenſo,
er beſtimmt nur genauer, welche Bewegung die anmuthige ſey. Wie
Leſſing hat er hiebei nur den Menſchen im Auge. Er unterſcheidet
nun die Anmuth von der durch die Natur geſchenkten architektoniſchen
Schönheit der feſten Formen und ſucht ihren inneren Grund in der
Schönheit der Scele, welcher die Tugend zur Neigung, zur Natur ge-
worden iſt, in dem harmoniſchen Gemüthe, in welchem zum ſittlichen
Impulſe die Sinnlichkeit frei und unbewußt zuſtimmt; ihre Erſcheinung
aber findet er in denjenigen Bewegungen, welche die willkürlichen un-
willkürlich begleiten als Ausdruck weder einer ausdrücklichen Willensbe-
ſtimmung noch eines bloſen Naturtriebs, ſondern der unbewußt mitan-
klingenden Empfindung, und welche er daher die ſympathetiſchen nennt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/198>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.