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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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(Mienenspiel, Gebärden beim Sprechen, Linie des Arms, wenn er nach
etwas greift u. s. w.). Solche Bewegungen werden endlich habituell
und bilden feste Züge, auch die Anmuth wird so schließlich zur architek-
tonischen Schönheit. In dieser Entwicklung erscheint die Anmuth als ein
persönliches Verdienst, sie ist "Schönheit der Gestalt unter dem Einflusse
der Freiheit", es ist "eine Art Zulassung, eine Gunst, die das Sittliche
dem Sinnlichen erzeigt". Es gibt allerdings eine Anmuth, welche Tren-
nung der Triebe und des Willens, Kampf und Versöhnung, also Ver-
dienst voraussetzt. Göthes Iphigenie ist eine schöne Seele, die ge-
kämpft hat. Allein diese erworbene Anmuth muß auch abgesehen davon,
daß das Erworbene erst, wenn es zur andern Natur geworden, als
Anmuth erscheint, was auch Schiller nicht verkennt, schon vor dem
Kampf als Anlage und Talent, als Instinet in der Natur liegen, und
dieser Instinet der Harmonie in seiner Erscheinung ist ebenfalls nicht ein
blos Sinnliches, sondern ein sittlich Sinnliches; nicht nur Iphigenie,
auch die medizeische Venus ist anmuthig. Im Kampfe selbst könnte sich
dieser Tact des harmonischen Spiels nicht erhalten, wenn er nicht vorher
als Natur da wäre. Ist er nun in der Natur da, so wird er auch da
seyn, wo das Sittliche und Sinnliche überhaupt noch gar nicht zu scheiden
sind, wie im Kinde. Ist er da, wo beide noch nicht zu scheiden sind,
so kann er auch da seyn, wo die Möglichkeit einer Scheidung durch die
Grenzen der Gattung abgeschnitten und in eine höhere Gattung hinaus-
verlegt, doch dämmernd angekündigt ist: in der Thierwelt. Man kann
thierische Bewegungen, wie des elastischen Pferdes, des liebkosenden
Hundes ganz wohl anmuthig nennen. Ist nun dieser Anklang des
Seelenspiels im Thiere, so kann ihn die Ahnung auch in der unbeseelten
Natur finden und Säuseln der Bäume, Spiel der Wellen anmuthig
nennen. Erweitert sich so der Begriff der Anmuth über das ganze Reich
der Schönheit, so ist er aber auch nach einer andern Seite noch zu eng.
Kann nämlich nach Schiller die Gewohnheit des schönen Spiels zur
habituellen, festen Form werden, so muß dieses Spiel als ein solches,
dessen Talent wir schon in die Natur selbst setzen müssen, auch ohne
wirkliche Bewegung sich im Körper ankündigen, und zwar nicht nur
durch die Erwartung ihres wirklichen Eintritts, sondern im Schwunge
der festen Formen selbst, ohne daß man an wirkliche Bewegung denkt.
Die Linien des schönen Körpers, auch wenn er ruht, fließen für das
Auge, und dies liegt nicht nur im Acte des Sehens, sondern sie sind
an sich eine Wirkung bauender und im Bauen den Stoff wirklich be-

(Mienenſpiel, Gebärden beim Sprechen, Linie des Arms, wenn er nach
etwas greift u. ſ. w.). Solche Bewegungen werden endlich habituell
und bilden feſte Züge, auch die Anmuth wird ſo ſchließlich zur architek-
toniſchen Schönheit. In dieſer Entwicklung erſcheint die Anmuth als ein
perſönliches Verdienſt, ſie iſt „Schönheit der Geſtalt unter dem Einfluſſe
der Freiheit“, es iſt „eine Art Zulaſſung, eine Gunſt, die das Sittliche
dem Sinnlichen erzeigt“. Es gibt allerdings eine Anmuth, welche Tren-
nung der Triebe und des Willens, Kampf und Verſöhnung, alſo Ver-
dienſt vorausſetzt. Göthes Iphigenie iſt eine ſchöne Seele, die ge-
kämpft hat. Allein dieſe erworbene Anmuth muß auch abgeſehen davon,
daß das Erworbene erſt, wenn es zur andern Natur geworden, als
Anmuth erſcheint, was auch Schiller nicht verkennt, ſchon vor dem
Kampf als Anlage und Talent, als Inſtinet in der Natur liegen, und
dieſer Inſtinet der Harmonie in ſeiner Erſcheinung iſt ebenfalls nicht ein
blos Sinnliches, ſondern ein ſittlich Sinnliches; nicht nur Iphigenie,
auch die medizeiſche Venus iſt anmuthig. Im Kampfe ſelbſt könnte ſich
dieſer Tact des harmoniſchen Spiels nicht erhalten, wenn er nicht vorher
als Natur da wäre. Iſt er nun in der Natur da, ſo wird er auch da
ſeyn, wo das Sittliche und Sinnliche überhaupt noch gar nicht zu ſcheiden
ſind, wie im Kinde. Iſt er da, wo beide noch nicht zu ſcheiden ſind,
ſo kann er auch da ſeyn, wo die Möglichkeit einer Scheidung durch die
Grenzen der Gattung abgeſchnitten und in eine höhere Gattung hinaus-
verlegt, doch dämmernd angekündigt iſt: in der Thierwelt. Man kann
thieriſche Bewegungen, wie des elaſtiſchen Pferdes, des liebkoſenden
Hundes ganz wohl anmuthig nennen. Iſt nun dieſer Anklang des
Seelenſpiels im Thiere, ſo kann ihn die Ahnung auch in der unbeſeelten
Natur finden und Säuſeln der Bäume, Spiel der Wellen anmuthig
nennen. Erweitert ſich ſo der Begriff der Anmuth über das ganze Reich
der Schönheit, ſo iſt er aber auch nach einer andern Seite noch zu eng.
Kann nämlich nach Schiller die Gewohnheit des ſchönen Spiels zur
habituellen, feſten Form werden, ſo muß dieſes Spiel als ein ſolches,
deſſen Talent wir ſchon in die Natur ſelbſt ſetzen müſſen, auch ohne
wirkliche Bewegung ſich im Körper ankündigen, und zwar nicht nur
durch die Erwartung ihres wirklichen Eintritts, ſondern im Schwunge
der feſten Formen ſelbſt, ohne daß man an wirkliche Bewegung denkt.
Die Linien des ſchönen Körpers, auch wenn er ruht, fließen für das
Auge, und dies liegt nicht nur im Acte des Sehens, ſondern ſie ſind
an ſich eine Wirkung bauender und im Bauen den Stoff wirklich be-

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[185/0199] (Mienenſpiel, Gebärden beim Sprechen, Linie des Arms, wenn er nach etwas greift u. ſ. w.). Solche Bewegungen werden endlich habituell und bilden feſte Züge, auch die Anmuth wird ſo ſchließlich zur architek- toniſchen Schönheit. In dieſer Entwicklung erſcheint die Anmuth als ein perſönliches Verdienſt, ſie iſt „Schönheit der Geſtalt unter dem Einfluſſe der Freiheit“, es iſt „eine Art Zulaſſung, eine Gunſt, die das Sittliche dem Sinnlichen erzeigt“. Es gibt allerdings eine Anmuth, welche Tren- nung der Triebe und des Willens, Kampf und Verſöhnung, alſo Ver- dienſt vorausſetzt. Göthes Iphigenie iſt eine ſchöne Seele, die ge- kämpft hat. Allein dieſe erworbene Anmuth muß auch abgeſehen davon, daß das Erworbene erſt, wenn es zur andern Natur geworden, als Anmuth erſcheint, was auch Schiller nicht verkennt, ſchon vor dem Kampf als Anlage und Talent, als Inſtinet in der Natur liegen, und dieſer Inſtinet der Harmonie in ſeiner Erſcheinung iſt ebenfalls nicht ein blos Sinnliches, ſondern ein ſittlich Sinnliches; nicht nur Iphigenie, auch die medizeiſche Venus iſt anmuthig. Im Kampfe ſelbſt könnte ſich dieſer Tact des harmoniſchen Spiels nicht erhalten, wenn er nicht vorher als Natur da wäre. Iſt er nun in der Natur da, ſo wird er auch da ſeyn, wo das Sittliche und Sinnliche überhaupt noch gar nicht zu ſcheiden ſind, wie im Kinde. Iſt er da, wo beide noch nicht zu ſcheiden ſind, ſo kann er auch da ſeyn, wo die Möglichkeit einer Scheidung durch die Grenzen der Gattung abgeſchnitten und in eine höhere Gattung hinaus- verlegt, doch dämmernd angekündigt iſt: in der Thierwelt. Man kann thieriſche Bewegungen, wie des elaſtiſchen Pferdes, des liebkoſenden Hundes ganz wohl anmuthig nennen. Iſt nun dieſer Anklang des Seelenſpiels im Thiere, ſo kann ihn die Ahnung auch in der unbeſeelten Natur finden und Säuſeln der Bäume, Spiel der Wellen anmuthig nennen. Erweitert ſich ſo der Begriff der Anmuth über das ganze Reich der Schönheit, ſo iſt er aber auch nach einer andern Seite noch zu eng. Kann nämlich nach Schiller die Gewohnheit des ſchönen Spiels zur habituellen, feſten Form werden, ſo muß dieſes Spiel als ein ſolches, deſſen Talent wir ſchon in die Natur ſelbſt ſetzen müſſen, auch ohne wirkliche Bewegung ſich im Körper ankündigen, und zwar nicht nur durch die Erwartung ihres wirklichen Eintritts, ſondern im Schwunge der feſten Formen ſelbſt, ohne daß man an wirkliche Bewegung denkt. Die Linien des ſchönen Körpers, auch wenn er ruht, fließen für das Auge, und dies liegt nicht nur im Acte des Sehens, ſondern ſie ſind an ſich eine Wirkung bauender und im Bauen den Stoff wirklich be-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/199>, abgerufen am 29.03.2024.