Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>
Aus einem Tagebuch.
Sonnabend, den 1. Januar 1820.

Fr. von S --: gelebt, gelesen, geschliffen, klug, gehemmt,
krank erfahren, und artig. Die Tochter: artig angelebt, be-
redt. Mich dünkt aber, nicht aus ihrer Natur heraus gebil-
det. Der Grund dieser Natur gefällt meiner nicht. Sie ist
zu loben, und angenehm; und nicht affektirt, oder unnatürlich
in ihrer Äußerung. Nur kommt es mir vor, ihre eigenste
Natur ausgebildet, wär's ein ganz anderes Mädchen: so sehen
die Grundzüge ihres Gesichts aus, und ihre ganze Komplexion,
die auch schon gelitten zu haben scheint. Nicht allein die größ-
ten Glücksumstände gehören dazu, der Menschen eigenste An-
lagen hervorzubilden, und in Harmonie zu bilden: sondern,
den meisten Menschen werden ganz faktice angebildet, und sie
haben nicht so kräftige Eigenschaften, auch nicht Einmal ein
paar in Harmonie thätige, um der Erziehung der Eltern oder
der Umstände zu widerstehen; sondern sie bleiben embryonisch
monsterhaft mit den verkrüppelten, verwesten, sparsam gestreu-
ten schwächlichen Naturanlagen verwickelt zum Stoffe der

III. 1
Aus einem Tagebuch.
Sonnabend, den 1. Januar 1820.

Fr. von S —: gelebt, geleſen, geſchliffen, klug, gehemmt,
krank erfahren, und artig. Die Tochter: artig angelebt, be-
redt. Mich dünkt aber, nicht aus ihrer Natur heraus gebil-
det. Der Grund dieſer Natur gefällt meiner nicht. Sie iſt
zu loben, und angenehm; und nicht affektirt, oder unnatürlich
in ihrer Äußerung. Nur kommt es mir vor, ihre eigenſte
Natur ausgebildet, wär’s ein ganz anderes Mädchen: ſo ſehen
die Grundzüge ihres Geſichts aus, und ihre ganze Komplexion,
die auch ſchon gelitten zu haben ſcheint. Nicht allein die größ-
ten Glücksumſtände gehören dazu, der Menſchen eigenſte An-
lagen hervorzubilden, und in Harmonie zu bilden: ſondern,
den meiſten Menſchen werden ganz faktice angebildet, und ſie
haben nicht ſo kräftige Eigenſchaften, auch nicht Einmal ein
paar in Harmonie thätige, um der Erziehung der Eltern oder
der Umſtände zu widerſtehen; ſondern ſie bleiben embryoniſch
monſterhaft mit den verkrüppelten, verweſten, ſparſam geſtreu-
ten ſchwächlichen Naturanlagen verwickelt zum Stoffe der

III. 1
<TEI>
  <text>
    <pb facs="#f0009" n="[1]"/>
    <body>
      <div n="1">
        <head/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Aus einem Tagebuch</hi>.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Sonnabend, den 1. Januar 1820.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Fr. von S &#x2014;: gelebt, gele&#x017F;en, ge&#x017F;chliffen, klug, gehemmt,<lb/>
krank erfahren, und artig. Die Tochter: artig angelebt, be-<lb/>
redt. Mich dünkt aber, nicht aus ihrer Natur heraus gebil-<lb/>
det. Der Grund die&#x017F;er Natur gefällt meiner nicht. Sie i&#x017F;t<lb/>
zu loben, und angenehm; und nicht affektirt, oder unnatürlich<lb/>
in ihrer Äußerung. Nur kommt es mir vor, ihre eigen&#x017F;te<lb/>
Natur ausgebildet, wär&#x2019;s ein ganz anderes Mädchen: &#x017F;o &#x017F;ehen<lb/>
die Grundzüge ihres Ge&#x017F;ichts aus, und ihre ganze Komplexion,<lb/>
die auch &#x017F;chon gelitten zu haben &#x017F;cheint. Nicht allein die größ-<lb/>
ten Glücksum&#x017F;tände gehören dazu, der Men&#x017F;chen eigen&#x017F;te An-<lb/>
lagen hervorzubilden, und in Harmonie zu bilden: &#x017F;ondern,<lb/>
den mei&#x017F;ten Men&#x017F;chen werden ganz faktice angebildet, und &#x017F;ie<lb/>
haben nicht &#x017F;o kräftige Eigen&#x017F;chaften, auch nicht Einmal ein<lb/>
paar in Harmonie thätige, um der Erziehung der Eltern oder<lb/>
der Um&#x017F;tände zu wider&#x017F;tehen; &#x017F;ondern &#x017F;ie bleiben embryoni&#x017F;ch<lb/>
mon&#x017F;terhaft mit den verkrüppelten, verwe&#x017F;ten, &#x017F;par&#x017F;am ge&#x017F;treu-<lb/>
ten &#x017F;chwächlichen Naturanlagen verwickelt zum Stoffe der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">III.</hi> 1</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[1]/0009] Aus einem Tagebuch. Sonnabend, den 1. Januar 1820. Fr. von S —: gelebt, geleſen, geſchliffen, klug, gehemmt, krank erfahren, und artig. Die Tochter: artig angelebt, be- redt. Mich dünkt aber, nicht aus ihrer Natur heraus gebil- det. Der Grund dieſer Natur gefällt meiner nicht. Sie iſt zu loben, und angenehm; und nicht affektirt, oder unnatürlich in ihrer Äußerung. Nur kommt es mir vor, ihre eigenſte Natur ausgebildet, wär’s ein ganz anderes Mädchen: ſo ſehen die Grundzüge ihres Geſichts aus, und ihre ganze Komplexion, die auch ſchon gelitten zu haben ſcheint. Nicht allein die größ- ten Glücksumſtände gehören dazu, der Menſchen eigenſte An- lagen hervorzubilden, und in Harmonie zu bilden: ſondern, den meiſten Menſchen werden ganz faktice angebildet, und ſie haben nicht ſo kräftige Eigenſchaften, auch nicht Einmal ein paar in Harmonie thätige, um der Erziehung der Eltern oder der Umſtände zu widerſtehen; ſondern ſie bleiben embryoniſch monſterhaft mit den verkrüppelten, verweſten, ſparſam geſtreu- ten ſchwächlichen Naturanlagen verwickelt zum Stoffe der III. 1

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/9
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/9>, abgerufen am 20.11.2024.