nicht fassen; und auch nicht allen Schmerz und Verlust in allen seinen Beziehungen. --
Freitag, den 6. April 1821.
Wenn man behauptet, physischer Schmerz sei der unleid- lichste, so widersprechen einem beinah alle gebildete Leute, und fühlen sich wohl recht behaglich, und ihre Denkungsart groß- artig. Man mag ihnen was auch immer für Gründe anfüh- ren. Wie kommt es aber doch nun wohl, daß kein Mitleid, ja, kein Gericht, für einen erwürgten Zustand einer ganzen Seele vorhanden ist; daß in den geselligen, und noch engern Verhältnissen der Familie, gewöhnlich die eine Hälfte, oder Einer, ganz erdrosselt in allen seinen Regungen des Geistes, des Herzens und allen Thätigkeiten seiner Anlagen umherlau- fen muß, ohne irgend Klage anbringen zu können; oder, ohne diese, Hülfe und Recht zu bekommen, während bei einem viel leiseren körperlichen Angriff alle Herzen auf offener Straße, und alle Gerichte ohne Kläger zu Hülfe eilen würden? Weil es da evident ist, daß der Gefährdete nicht würde weiter leben können, und die Natur schon da diese gütige Einrichtung ge- troffen hat: bei der Seele Übel, und was der widerspricht, war sie nicht so nah: und aus diesem einzigen Grunde, möchte ich diese Übel herber nennen; von der Seite be- trachtet. --
3 *
nicht faſſen; und auch nicht allen Schmerz und Verluſt in allen ſeinen Beziehungen. —
Freitag, den 6. April 1821.
Wenn man behauptet, phyſiſcher Schmerz ſei der unleid- lichſte, ſo widerſprechen einem beinah alle gebildete Leute, und fühlen ſich wohl recht behaglich, und ihre Denkungsart groß- artig. Man mag ihnen was auch immer für Gründe anfüh- ren. Wie kommt es aber doch nun wohl, daß kein Mitleid, ja, kein Gericht, für einen erwürgten Zuſtand einer ganzen Seele vorhanden iſt; daß in den geſelligen, und noch engern Verhältniſſen der Familie, gewöhnlich die eine Hälfte, oder Einer, ganz erdroſſelt in allen ſeinen Regungen des Geiſtes, des Herzens und allen Thätigkeiten ſeiner Anlagen umherlau- fen muß, ohne irgend Klage anbringen zu können; oder, ohne dieſe, Hülfe und Recht zu bekommen, während bei einem viel leiſeren körperlichen Angriff alle Herzen auf offener Straße, und alle Gerichte ohne Kläger zu Hülfe eilen würden? Weil es da evident iſt, daß der Gefährdete nicht würde weiter leben können, und die Natur ſchon da dieſe gütige Einrichtung ge- troffen hat: bei der Seele Übel, und was der widerſpricht, war ſie nicht ſo nah: und aus dieſem einzigen Grunde, möchte ich dieſe Übel herber nennen; von der Seite be- trachtet. —
3 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0043"n="35"/>
nicht faſſen; und auch nicht allen Schmerz und Verluſt in<lb/>
allen ſeinen Beziehungen. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Freitag, den 6. April 1821.</hi></dateline><lb/><p>Wenn man behauptet, phyſiſcher Schmerz ſei der unleid-<lb/>
lichſte, ſo widerſprechen einem beinah alle gebildete Leute, und<lb/>
fühlen ſich wohl recht behaglich, und ihre Denkungsart groß-<lb/>
artig. Man mag ihnen was auch immer für Gründe anfüh-<lb/>
ren. Wie kommt es aber doch nun wohl, daß kein Mitleid,<lb/>
ja, kein Gericht, für einen erwürgten Zuſtand einer ganzen<lb/>
Seele vorhanden iſt; daß in den geſelligen, und noch engern<lb/>
Verhältniſſen der Familie, gewöhnlich die eine Hälfte, oder<lb/>
Einer, ganz erdroſſelt in allen ſeinen Regungen des Geiſtes,<lb/>
des Herzens und allen Thätigkeiten ſeiner Anlagen umherlau-<lb/>
fen muß, ohne irgend Klage anbringen zu können; oder, ohne<lb/>
dieſe, Hülfe und Recht zu bekommen, während bei einem viel<lb/>
leiſeren körperlichen Angriff alle Herzen auf offener Straße,<lb/>
und alle Gerichte ohne Kläger zu Hülfe eilen würden? Weil<lb/>
es da evident iſt, daß der Gefährdete nicht würde weiter leben<lb/>
können, und die Natur ſchon da dieſe gütige Einrichtung ge-<lb/>
troffen hat: bei der Seele Übel, und was der widerſpricht,<lb/>
war ſie nicht ſo nah: und aus <hirendition="#g">dieſem</hi> einzigen Grunde,<lb/>
möchte ich dieſe Übel herber nennen; von <hirendition="#g">der</hi> Seite be-<lb/>
trachtet. —</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><fwplace="bottom"type="sig">3 *</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[35/0043]
nicht faſſen; und auch nicht allen Schmerz und Verluſt in
allen ſeinen Beziehungen. —
Freitag, den 6. April 1821.
Wenn man behauptet, phyſiſcher Schmerz ſei der unleid-
lichſte, ſo widerſprechen einem beinah alle gebildete Leute, und
fühlen ſich wohl recht behaglich, und ihre Denkungsart groß-
artig. Man mag ihnen was auch immer für Gründe anfüh-
ren. Wie kommt es aber doch nun wohl, daß kein Mitleid,
ja, kein Gericht, für einen erwürgten Zuſtand einer ganzen
Seele vorhanden iſt; daß in den geſelligen, und noch engern
Verhältniſſen der Familie, gewöhnlich die eine Hälfte, oder
Einer, ganz erdroſſelt in allen ſeinen Regungen des Geiſtes,
des Herzens und allen Thätigkeiten ſeiner Anlagen umherlau-
fen muß, ohne irgend Klage anbringen zu können; oder, ohne
dieſe, Hülfe und Recht zu bekommen, während bei einem viel
leiſeren körperlichen Angriff alle Herzen auf offener Straße,
und alle Gerichte ohne Kläger zu Hülfe eilen würden? Weil
es da evident iſt, daß der Gefährdete nicht würde weiter leben
können, und die Natur ſchon da dieſe gütige Einrichtung ge-
troffen hat: bei der Seele Übel, und was der widerſpricht,
war ſie nicht ſo nah: und aus dieſem einzigen Grunde,
möchte ich dieſe Übel herber nennen; von der Seite be-
trachtet. —
3 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/43>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.