Berlin, den 9. April 1821. Wärmliches Wetter, grauer Himmel mit augenblicklichem Sonnenschein, beinah abgetrocknetes -- schlechtes -- Pflaster, einige Bäume wollen schon aufbrechen, mit glänzenden dicken Knospen. So ist der 9. April hier.
Sind wir noch dieselben?! Kann noch ein Zweifel ob- walten, über unsere Vorexistenz? Daß man ganz aus- und abgerieben wird, das ist doch ausgemacht: daß wir keinen An- fang, und kein Aufhören denken können, auch: wir haben also unser voriges Dasein rein vergessen. Es ist eine ausgemachte partie de plaisir, daß wir in vorgerückten Jahren uns unsere Jugend noch zu erinnren vermögen; und zu dieser, liebe Freun- din, lade ich Sie ein! Es ist auch nur einer von den opti- schen Betrügen, woraus unser hiesiges Leben zusammengewitzt ist, daß wir meinen müssen, wir verändern uns. Die alte, nämlich ewig junge Seele muß nur durch so alte Kanäle; die Witzkombination ist doch nicht groß genug, und wiederholt sich zu sehr: Sie sollten sonst sehen, wie jünglingsrege unsere liebe Seele wäre, wenn sie nur alle Tage etwas Neues er- führe; durch eigne neue Gymnastik oder andere Organe, als da sind das Weltall! Eines der größten Witzereignisse ist nun, daß Sie nach Deutschland kommen wollen. Nur bege- hen Sie den großen Fehler nicht, nur sieben Wochen dazu anzuwenden, wie der Scholar, Ihr Sohn. Lassen Sie diesen jungen Menschen allein zurückreisen; und übereilen Sie sich nicht! Eine ganz nützliche Reise über das deutsche Land kön- nen Sie gewiß in dieser Zeit ganz zu Stande bringen; Sie
An Mad. Domeier, in London.
Berlin, den 9. April 1821. Wärmliches Wetter, grauer Himmel mit augenblicklichem Sonnenſchein, beinah abgetrocknetes — ſchlechtes — Pflaſter, einige Bäume wollen ſchon aufbrechen, mit glänzenden dicken Knoſpen. So iſt der 9. April hier.
Sind wir noch dieſelben?! Kann noch ein Zweifel ob- walten, über unſere Vorexiſtenz? Daß man ganz aus- und abgerieben wird, das iſt doch ausgemacht: daß wir keinen An- fang, und kein Aufhören denken können, auch: wir haben alſo unſer voriges Daſein rein vergeſſen. Es iſt eine ausgemachte partie de plaisir, daß wir in vorgerückten Jahren uns unſere Jugend noch zu erinnren vermögen; und zu dieſer, liebe Freun- din, lade ich Sie ein! Es iſt auch nur einer von den opti- ſchen Betrügen, woraus unſer hieſiges Leben zuſammengewitzt iſt, daß wir meinen müſſen, wir verändern uns. Die alte, nämlich ewig junge Seele muß nur durch ſo alte Kanäle; die Witzkombination iſt doch nicht groß genug, und wiederholt ſich zu ſehr: Sie ſollten ſonſt ſehen, wie jünglingsrege unſere liebe Seele wäre, wenn ſie nur alle Tage etwas Neues er- führe; durch eigne neue Gymnaſtik oder andere Organe, als da ſind das Weltall! Eines der größten Witzereigniſſe iſt nun, daß Sie nach Deutſchland kommen wollen. Nur bege- hen Sie den großen Fehler nicht, nur ſieben Wochen dazu anzuwenden, wie der Scholar, Ihr Sohn. Laſſen Sie dieſen jungen Menſchen allein zurückreiſen; und übereilen Sie ſich nicht! Eine ganz nützliche Reiſe über das deutſche Land kön- nen Sie gewiß in dieſer Zeit ganz zu Stande bringen; Sie
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0044"n="36"/><divn="2"><head>An Mad. Domeier, in London.</head><lb/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Berlin, den 9. April 1821. Wärmliches Wetter, grauer<lb/>
Himmel mit augenblicklichem Sonnenſchein, beinah<lb/>
abgetrocknetes —ſchlechtes — Pflaſter, einige Bäume<lb/><hirendition="#g">wollen</hi>ſchon aufbrechen, mit glänzenden dicken<lb/>
Knoſpen. So iſt der 9. April <hirendition="#g">hier</hi>.</hi></dateline><lb/><p>Sind wir noch dieſelben?! Kann noch ein Zweifel ob-<lb/>
walten, über unſere Vorexiſtenz? Daß man ganz aus- und<lb/>
abgerieben wird, das iſt doch ausgemacht: daß wir keinen An-<lb/>
fang, und kein Aufhören denken können, auch: wir haben alſo<lb/>
unſer voriges Daſein rein vergeſſen. Es iſt eine ausgemachte<lb/><hirendition="#aq">partie de plaisir,</hi> daß wir in vorgerückten Jahren uns unſere<lb/>
Jugend noch zu erinnren vermögen; und zu dieſer, liebe Freun-<lb/>
din, lade ich Sie ein! Es iſt auch nur einer von den opti-<lb/>ſchen Betrügen, woraus unſer hieſiges Leben zuſammengewitzt<lb/>
iſt, daß wir meinen müſſen, wir verändern uns. Die alte,<lb/>
nämlich ewig junge Seele muß nur durch ſo alte Kanäle; die<lb/>
Witzkombination iſt doch nicht groß genug, und wiederholt<lb/>ſich zu ſehr: Sie ſollten ſonſt ſehen, wie jünglingsrege unſere<lb/>
liebe Seele wäre, wenn ſie nur alle Tage etwas Neues er-<lb/>
führe; durch eigne neue Gymnaſtik oder andere Organe, als<lb/>
da ſind das Weltall! Eines der größten Witzereigniſſe iſt<lb/>
nun, daß Sie nach Deutſchland kommen wollen. Nur bege-<lb/>
hen Sie den großen Fehler nicht, nur ſieben Wochen dazu<lb/>
anzuwenden, wie der Scholar, Ihr Sohn. Laſſen Sie dieſen<lb/>
jungen Menſchen allein zurückreiſen; und übereilen Sie ſich<lb/>
nicht! Eine ganz nützliche Reiſe über das deutſche Land kön-<lb/>
nen Sie gewiß in dieſer Zeit ganz zu Stande bringen; Sie<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[36/0044]
An Mad. Domeier, in London.
Berlin, den 9. April 1821. Wärmliches Wetter, grauer
Himmel mit augenblicklichem Sonnenſchein, beinah
abgetrocknetes — ſchlechtes — Pflaſter, einige Bäume
wollen ſchon aufbrechen, mit glänzenden dicken
Knoſpen. So iſt der 9. April hier.
Sind wir noch dieſelben?! Kann noch ein Zweifel ob-
walten, über unſere Vorexiſtenz? Daß man ganz aus- und
abgerieben wird, das iſt doch ausgemacht: daß wir keinen An-
fang, und kein Aufhören denken können, auch: wir haben alſo
unſer voriges Daſein rein vergeſſen. Es iſt eine ausgemachte
partie de plaisir, daß wir in vorgerückten Jahren uns unſere
Jugend noch zu erinnren vermögen; und zu dieſer, liebe Freun-
din, lade ich Sie ein! Es iſt auch nur einer von den opti-
ſchen Betrügen, woraus unſer hieſiges Leben zuſammengewitzt
iſt, daß wir meinen müſſen, wir verändern uns. Die alte,
nämlich ewig junge Seele muß nur durch ſo alte Kanäle; die
Witzkombination iſt doch nicht groß genug, und wiederholt
ſich zu ſehr: Sie ſollten ſonſt ſehen, wie jünglingsrege unſere
liebe Seele wäre, wenn ſie nur alle Tage etwas Neues er-
führe; durch eigne neue Gymnaſtik oder andere Organe, als
da ſind das Weltall! Eines der größten Witzereigniſſe iſt
nun, daß Sie nach Deutſchland kommen wollen. Nur bege-
hen Sie den großen Fehler nicht, nur ſieben Wochen dazu
anzuwenden, wie der Scholar, Ihr Sohn. Laſſen Sie dieſen
jungen Menſchen allein zurückreiſen; und übereilen Sie ſich
nicht! Eine ganz nützliche Reiſe über das deutſche Land kön-
nen Sie gewiß in dieſer Zeit ganz zu Stande bringen; Sie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/44>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.