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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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man in einen kleinen Bach sieht; und so lieb' ich Sie denn.
Schreiben Sie mir schnell!

Fr. Varnhagen.

Meine Nerven erlauben kein feineres Papier. Pardon.



Bei dem Vorfall in Wilhelm Meister, wo Lothario die
Pächterstochter wiedersieht, und der Stelle, wo es heißt: "Ich
gab dem ehemals geliebten Geschöpfe die Hand, und sagte
zu ihr: Ich habe eine rechte Freude, Sie wieder zu sehen. --
Sie sind sehr gut, mir das zu sagen, versetzte sie: aber auch
ich kann Ihnen versichern, daß ich mir gewünscht, Sie nur
noch Einmal im Leben wiederzusehen: ich habe es in Augen-
blicken gewünscht, die ich für meine letzten hielt." Welch ein
Vorfall, wenn unsre ganze erste Natur zerrissen wird: und
mit einer zweiten fortgelebt wird! Die wenigen Worte dieser
Pächterstochter enthalten Rousseau's ganzen Brief, den St.
Preux nach Julie's Tod erhält. --




Wenn wir irgend ein Ding benennen, so bezeichnen wir
mit seinem Namen irgend eine oder mehrere Eigenschaften
desselben, oder wohl gar keine davon: wir besinnen uns aber
vermittelst des kategorischen Gedächtnisses des ganzen Dinges
durch seinen Namen. Was heißt aber hier: des ganzen Din-
ges? Auch nur: das Bild einiger Eigenschaften dieses Din-
ges. Wir haben keine Sprache, die das wirkliche Wesen eines
Dinges besagen könnte: und wenn wir uns bedenken, so

haben

man in einen kleinen Bach ſieht; und ſo lieb’ ich Sie denn.
Schreiben Sie mir ſchnell!

Fr. Varnhagen.

Meine Nerven erlauben kein feineres Papier. Pardon.



Bei dem Vorfall in Wilhelm Meiſter, wo Lothario die
Pächterstochter wiederſieht, und der Stelle, wo es heißt: „Ich
gab dem ehemals geliebten Geſchöpfe die Hand, und ſagte
zu ihr: Ich habe eine rechte Freude, Sie wieder zu ſehen. —
Sie ſind ſehr gut, mir das zu ſagen, verſetzte ſie: aber auch
ich kann Ihnen verſichern, daß ich mir gewünſcht, Sie nur
noch Einmal im Leben wiederzuſehen: ich habe es in Augen-
blicken gewünſcht, die ich für meine letzten hielt.“ Welch ein
Vorfall, wenn unſre ganze erſte Natur zerriſſen wird: und
mit einer zweiten fortgelebt wird! Die wenigen Worte dieſer
Pächterstochter enthalten Rouſſeau’s ganzen Brief, den St.
Preux nach Julie’s Tod erhält. —




Wenn wir irgend ein Ding benennen, ſo bezeichnen wir
mit ſeinem Namen irgend eine oder mehrere Eigenſchaften
deſſelben, oder wohl gar keine davon: wir beſinnen uns aber
vermittelſt des kategoriſchen Gedächtniſſes des ganzen Dinges
durch ſeinen Namen. Was heißt aber hier: des ganzen Din-
ges? Auch nur: das Bild einiger Eigenſchaften dieſes Din-
ges. Wir haben keine Sprache, die das wirkliche Weſen eines
Dinges beſagen könnte: und wenn wir uns bedenken, ſo

haben
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[416/0424] man in einen kleinen Bach ſieht; und ſo lieb’ ich Sie denn. Schreiben Sie mir ſchnell! Fr. Varnhagen. Meine Nerven erlauben kein feineres Papier. Pardon. Bei dem Vorfall in Wilhelm Meiſter, wo Lothario die Pächterstochter wiederſieht, und der Stelle, wo es heißt: „Ich gab dem ehemals geliebten Geſchöpfe die Hand, und ſagte zu ihr: Ich habe eine rechte Freude, Sie wieder zu ſehen. — Sie ſind ſehr gut, mir das zu ſagen, verſetzte ſie: aber auch ich kann Ihnen verſichern, daß ich mir gewünſcht, Sie nur noch Einmal im Leben wiederzuſehen: ich habe es in Augen- blicken gewünſcht, die ich für meine letzten hielt.“ Welch ein Vorfall, wenn unſre ganze erſte Natur zerriſſen wird: und mit einer zweiten fortgelebt wird! Die wenigen Worte dieſer Pächterstochter enthalten Rouſſeau’s ganzen Brief, den St. Preux nach Julie’s Tod erhält. — Freitag, den 13. November 1829. Wenn wir irgend ein Ding benennen, ſo bezeichnen wir mit ſeinem Namen irgend eine oder mehrere Eigenſchaften deſſelben, oder wohl gar keine davon: wir beſinnen uns aber vermittelſt des kategoriſchen Gedächtniſſes des ganzen Dinges durch ſeinen Namen. Was heißt aber hier: des ganzen Din- ges? Auch nur: das Bild einiger Eigenſchaften dieſes Din- ges. Wir haben keine Sprache, die das wirkliche Weſen eines Dinges beſagen könnte: und wenn wir uns bedenken, ſo haben

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/424>, abgerufen am 20.11.2024.