Meine wohlgeneigte und wohlbegabte Freundin! Sie sol- len selbst ermessen, wie lieb mir Ihr Schreiben sein mußte, wenn ich Ihnen eine kurze Rechenschaft gegeben habe, wie das, was Sie lasen, entstanden ist. Obgleich ich seit einer Anzahl Jahre beinah nicht mehr schreibe, so hat wohl Vol- taire und seines Gleichen nicht mehr Briefe und Billete ausgehn lassen, als ich in früherer Zeit. In dieser Zeit aber wußte ich nicht, was ich that: und hätte ich darüber etwas gemeint, so wär' es wohl dies gewesen, zu glauben: so schrie- ben alle Menschen, so viel, und was ihnen einfiele. In die- sem, vom Himmel verliehenen Unschuldswetter lebt' ich bis auf den kleinsten Rest meine Jugend durch; obgleich ganz im Anfang derselben, zum zwölften und dreizehnten Jahr, meine Handbilletchen und Geschwisterbriefe Lachen und Redens genug erregten: ich glaubte firm -- welch Glück! -- dies läge nur an den andern Leuten: die wären so sonderbar; und ver- ständen nicht recht was ich sagen wollte; auch weil ich's nicht sehr gut sagen könnte; übrigens wären sie und dächten sie wie ich. Dabei blieb ich -- bis zur Schande lange --, nur jeden Fall sah ich einzeln ein, wo das anders war. Mein Glück! einziges, größtes. Von Jugend an, ging es reich, und der Wahrheit gemäß in mir her; Natur wirkte scharf und richtig auf scharfe Organe; ein felsenfestes, empfindliches Herz hatte sie mir mitgegeben, das alle andre Organe immerzu,
An Antonie von Horn.
Sonntag, den 11. Oktober 1829.
Meine wohlgeneigte und wohlbegabte Freundin! Sie ſol- len ſelbſt ermeſſen, wie lieb mir Ihr Schreiben ſein mußte, wenn ich Ihnen eine kurze Rechenſchaft gegeben habe, wie das, was Sie laſen, entſtanden iſt. Obgleich ich ſeit einer Anzahl Jahre beinah nicht mehr ſchreibe, ſo hat wohl Vol- taire und ſeines Gleichen nicht mehr Briefe und Billete ausgehn laſſen, als ich in früherer Zeit. In dieſer Zeit aber wußte ich nicht, was ich that: und hätte ich darüber etwas gemeint, ſo wär’ es wohl dies geweſen, zu glauben: ſo ſchrie- ben alle Menſchen, ſo viel, und was ihnen einfiele. In die- ſem, vom Himmel verliehenen Unſchuldswetter lebt’ ich bis auf den kleinſten Reſt meine Jugend durch; obgleich ganz im Anfang derſelben, zum zwölften und dreizehnten Jahr, meine Handbilletchen und Geſchwiſterbriefe Lachen und Redens genug erregten: ich glaubte firm — welch Glück! — dies läge nur an den andern Leuten: die wären ſo ſonderbar; und ver- ſtänden nicht recht was ich ſagen wollte; auch weil ich’s nicht ſehr gut ſagen könnte; übrigens wären ſie und dächten ſie wie ich. Dabei blieb ich — bis zur Schande lange —, nur jeden Fall ſah ich einzeln ein, wo das anders war. Mein Glück! einziges, größtes. Von Jugend an, ging es reich, und der Wahrheit gemäß in mir her; Natur wirkte ſcharf und richtig auf ſcharfe Organe; ein felſenfeſtes, empfindliches Herz hatte ſie mir mitgegeben, das alle andre Organe immerzu,
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An Antonie von Horn.
Sonntag, den 11. Oktober 1829.
Meine wohlgeneigte und wohlbegabte Freundin! Sie ſol-
len ſelbſt ermeſſen, wie lieb mir Ihr Schreiben ſein mußte,
wenn ich Ihnen eine kurze Rechenſchaft gegeben habe, wie
das, was Sie laſen, entſtanden iſt. Obgleich ich ſeit einer
Anzahl Jahre beinah nicht mehr ſchreibe, ſo hat wohl Vol-
taire und ſeines Gleichen nicht mehr Briefe und Billete
ausgehn laſſen, als ich in früherer Zeit. In dieſer Zeit aber
wußte ich nicht, was ich that: und hätte ich darüber etwas
gemeint, ſo wär’ es wohl dies geweſen, zu glauben: ſo ſchrie-
ben alle Menſchen, ſo viel, und was ihnen einfiele. In die-
ſem, vom Himmel verliehenen Unſchuldswetter lebt’ ich bis
auf den kleinſten Reſt meine Jugend durch; obgleich ganz im
Anfang derſelben, zum zwölften und dreizehnten Jahr, meine
Handbilletchen und Geſchwiſterbriefe Lachen und Redens genug
erregten: ich glaubte firm — welch Glück! — dies läge nur
an den andern Leuten: die wären ſo ſonderbar; und ver-
ſtänden nicht recht was ich ſagen wollte; auch weil ich’s
nicht ſehr gut ſagen könnte; übrigens wären ſie und dächten
ſie wie ich. Dabei blieb ich — bis zur Schande lange —,
nur jeden Fall ſah ich einzeln ein, wo das anders war. Mein
Glück! einziges, größtes. Von Jugend an, ging es reich,
und der Wahrheit gemäß in mir her; Natur wirkte ſcharf
und richtig auf ſcharfe Organe; ein felſenfeſtes, empfindliches
Herz hatte ſie mir mitgegeben, das alle andre Organe immerzu,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/404>, abgerufen am 20.11.2024.
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