Wißmann schöne Grüße; den größten Antheil an der letztern Genesen!
An Varnhagen, in Kassel.
Dienstag, den 24. März 1829.
Bald 11 Uhr. Helles Wetter, welches eben bei diesem Worte dunkelt. Wieder hell. Südostwind.
-- Pauvre humanite. Niemanden wird etwas gereicht, der nicht herzhaft den bittern Kelch vor die feine Zunge nimmt; und herunter, herunter; alles hinein! Unverhofft wird's veil- chenartig, aromisch, süß genug; und hell um uns her, und ruhig: und das nur, weil mir das Bittere abgetrunken, was wir selbst hinaufgehäuft; Ungesehenes, Unwahres, Falsches so- gar; nach dem herben, muthverlangenden Abtrinken ist reiner Grund und Wahrheit da; und in uns; und diese ist Him- melselement: weil ihr Wesen darin besteht und zu erkennen ist, daß sie zu den nächsten Gliedern passen muß; und da- durch bis zum Himmel hinauf passen kann. Alles was wir thun können, besteht in einem richtigen Erschauen, nach innen und außen hin; daß wir uns wiederfinden in neuem berei- chernden Erfassen! Der Faule muß alles nachholen, noch Ein- mal beginnen, bei harter Strafe und Schmerz; bei hartem Befinden. Wir versuchen Alle, und oft, faul zu sein; aber wir müssen es nicht bleiben: Clemens ruht sich wieder zu sehr beim Katholizism aus; vorwärts, armer Clemens! je eher je lieber. So viel Klügere auch wollen das große Defizit nicht ertragen: und mit Goethe'n nicht "verzweiflen, wenn sie leben
Wißmann ſchöne Grüße; den größten Antheil an der letztern Geneſen!
An Varnhagen, in Kaſſel.
Dienstag, den 24. März 1829.
Bald 11 Uhr. Helles Wetter, welches eben bei dieſem Worte dunkelt. Wieder hell. Südoſtwind.
— Pauvre humanité. Niemanden wird etwas gereicht, der nicht herzhaft den bittern Kelch vor die feine Zunge nimmt; und herunter, herunter; alles hinein! Unverhofft wird’s veil- chenartig, aromiſch, ſüß genug; und hell um uns her, und ruhig: und das nur, weil mir das Bittere abgetrunken, was wir ſelbſt hinaufgehäuft; Ungeſehenes, Unwahres, Falſches ſo- gar; nach dem herben, muthverlangenden Abtrinken iſt reiner Grund und Wahrheit da; und in uns; und dieſe iſt Him- melselement: weil ihr Weſen darin beſteht und zu erkennen iſt, daß ſie zu den nächſten Gliedern paſſen muß; und da- durch bis zum Himmel hinauf paſſen kann. Alles was wir thun können, beſteht in einem richtigen Erſchauen, nach innen und außen hin; daß wir uns wiederfinden in neuem berei- chernden Erfaſſen! Der Faule muß alles nachholen, noch Ein- mal beginnen, bei harter Strafe und Schmerz; bei hartem Befinden. Wir verſuchen Alle, und oft, faul zu ſein; aber wir müſſen es nicht bleiben: Clemens ruht ſich wieder zu ſehr beim Katholizism aus; vorwärts, armer Clemens! je eher je lieber. So viel Klügere auch wollen das große Defizit nicht ertragen: und mit Goethe’n nicht „verzweiflen, wenn ſie leben
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Wißmann ſchöne Grüße; den größten Antheil an der
letztern Geneſen!
An Varnhagen, in Kaſſel.
Dienstag, den 24. März 1829.
Bald 11 Uhr. Helles Wetter, welches eben bei dieſem
Worte dunkelt. Wieder hell. Südoſtwind.
— Pauvre humanité. Niemanden wird etwas gereicht,
der nicht herzhaft den bittern Kelch vor die feine Zunge nimmt;
und herunter, herunter; alles hinein! Unverhofft wird’s veil-
chenartig, aromiſch, ſüß genug; und hell um uns her, und
ruhig: und das nur, weil mir das Bittere abgetrunken, was
wir ſelbſt hinaufgehäuft; Ungeſehenes, Unwahres, Falſches ſo-
gar; nach dem herben, muthverlangenden Abtrinken iſt reiner
Grund und Wahrheit da; und in uns; und dieſe iſt Him-
melselement: weil ihr Weſen darin beſteht und zu erkennen
iſt, daß ſie zu den nächſten Gliedern paſſen muß; und da-
durch bis zum Himmel hinauf paſſen kann. Alles was wir
thun können, beſteht in einem richtigen Erſchauen, nach innen
und außen hin; daß wir uns wiederfinden in neuem berei-
chernden Erfaſſen! Der Faule muß alles nachholen, noch Ein-
mal beginnen, bei harter Strafe und Schmerz; bei hartem
Befinden. Wir verſuchen Alle, und oft, faul zu ſein; aber
wir müſſen es nicht bleiben: Clemens ruht ſich wieder zu ſehr
beim Katholizism aus; vorwärts, armer Clemens! je eher je
lieber. So viel Klügere auch wollen das große Defizit nicht
ertragen: und mit Goethe’n nicht „verzweiflen, wenn ſie leben
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/390>, abgerufen am 20.11.2024.
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