Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

mit uns einigen wollen; die sind schon die Glücklichen, die
Begünstigten, die solche Masse nur erkennen: machen Sie
sich diesen Vortheil ganz zu Nutze! Umgehn, umfliegen
Sie
sie; gehn Sie nie heran, als an ein schon verarbeitetes
belebtes Glied, welches mit dem Herzenskern in lebendiger
Verbindung steht, sie umarmen zu wollen; wobei nur das
harte Anstoßen die richtige Strafe des Irrthums, des Selbst-
schmeichelns, zu gewinnen steht. Verzeihen, verzeihen Sie
verehrter Freund, daß ich Sie belehren will! -- --




Alle andere Bewunderte sagen freilich auch Wahrheiten;
aber Goethe giebt Wahrheit; ein Ganzes, einen Grund ha-
bendes Zusammenhängendes durch die Wahrheiten, die er sagt.
Bei Jean Pauls Titan. Bei Jakobi's und Wielands Briefen.




Vernunft ist das Vermögen -- oder besser ausgedrückt --
die Regel in unserm Geiste, nach welcher wir jedesmal von
neuem die Regel zum Verstehen erfinden können. --

Das ist nun so zu verstehen: Vernunft ist eine Regel in
uns, nicht die wir machen, wir besitzen sie nur leidend, wir
finden sie in uns vor; wir gebrauchen sie nur thätig, als
Maß. Sie ist außerpersönlich, sie ist ein Mitgift in uns,
die uns antwortet. Die Vernunft antwortet uns z. B. auf
die Frage: Was sollen wir auf unverständliche Dinge, als
etwa zu einem Wunder, sagen? Da antwortet die Vernunft:
Es muß eine mir unbekannte Regel geben, nach der auch die-

ses

mit uns einigen wollen; die ſind ſchon die Glücklichen, die
Begünſtigten, die ſolche Maſſe nur erkennen: machen Sie
ſich dieſen Vortheil ganz zu Nutze! Umgehn, umfliegen
Sie
ſie; gehn Sie nie heran, als an ein ſchon verarbeitetes
belebtes Glied, welches mit dem Herzenskern in lebendiger
Verbindung ſteht, ſie umarmen zu wollen; wobei nur das
harte Anſtoßen die richtige Strafe des Irrthums, des Selbſt-
ſchmeichelns, zu gewinnen ſteht. Verzeihen, verzeihen Sie
verehrter Freund, daß ich Sie belehren will! — —




Alle andere Bewunderte ſagen freilich auch Wahrheiten;
aber Goethe giebt Wahrheit; ein Ganzes, einen Grund ha-
bendes Zuſammenhängendes durch die Wahrheiten, die er ſagt.
Bei Jean Pauls Titan. Bei Jakobi’s und Wielands Briefen.




Vernunft iſt das Vermögen — oder beſſer ausgedrückt —
die Regel in unſerm Geiſte, nach welcher wir jedesmal von
neuem die Regel zum Verſtehen erfinden können. —

Das iſt nun ſo zu verſtehen: Vernunft iſt eine Regel in
uns, nicht die wir machen, wir beſitzen ſie nur leidend, wir
finden ſie in uns vor; wir gebrauchen ſie nur thätig, als
Maß. Sie iſt außerperſönlich, ſie iſt ein Mitgift in uns,
die uns antwortet. Die Vernunft antwortet uns z. B. auf
die Frage: Was ſollen wir auf unverſtändliche Dinge, als
etwa zu einem Wunder, ſagen? Da antwortet die Vernunft:
Es muß eine mir unbekannte Regel geben, nach der auch die-

ſes
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0280" n="272"/>
mit uns einigen wollen; die &#x017F;ind &#x017F;chon die Glücklichen, die<lb/>
Begün&#x017F;tigten, die &#x017F;olche Ma&#x017F;&#x017F;e nur erkennen: machen Sie<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;en Vortheil ganz zu Nutze! Umgehn, <hi rendition="#g">umfliegen<lb/>
Sie</hi> &#x017F;ie; gehn Sie nie heran, als an ein &#x017F;chon verarbeitetes<lb/>
belebtes Glied, welches mit dem Herzenskern in lebendiger<lb/>
Verbindung &#x017F;teht, &#x017F;ie umarmen zu wollen; wobei nur das<lb/>
harte An&#x017F;toßen die richtige Strafe des Irrthums, des Selb&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;chmeichelns, zu gewinnen &#x017F;teht. Verzeihen, <hi rendition="#g">verzeihen</hi> Sie<lb/>
verehrter Freund, daß <hi rendition="#g">ich</hi> Sie belehren will! &#x2014; &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Sonntag, den 8. März 1827.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Alle andere Bewunderte &#x017F;agen freilich auch Wahrheiten;<lb/>
aber Goethe giebt Wahrheit; ein Ganzes, einen Grund ha-<lb/>
bendes Zu&#x017F;ammenhängendes durch die Wahrheiten, die er &#x017F;agt.<lb/>
Bei Jean Pauls Titan. Bei Jakobi&#x2019;s und Wielands Briefen.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">1827.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Vernunft i&#x017F;t das Vermögen &#x2014; oder be&#x017F;&#x017F;er ausgedrückt &#x2014;<lb/>
die Regel in un&#x017F;erm Gei&#x017F;te, nach welcher wir jedesmal von<lb/>
neuem die Regel zum Ver&#x017F;tehen erfinden können. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Das i&#x017F;t nun &#x017F;o zu ver&#x017F;tehen: Vernunft i&#x017F;t eine Regel in<lb/>
uns, nicht die wir machen, wir be&#x017F;itzen &#x017F;ie nur leidend, wir<lb/>
finden &#x017F;ie in uns vor; wir gebrauchen &#x017F;ie nur thätig, als<lb/>
Maß. Sie i&#x017F;t außerper&#x017F;önlich, &#x017F;ie i&#x017F;t ein Mitgift in uns,<lb/>
die uns antwortet. Die Vernunft antwortet uns z. B. auf<lb/>
die Frage: Was &#x017F;ollen wir auf unver&#x017F;tändliche Dinge, als<lb/>
etwa zu einem Wunder, &#x017F;agen? Da antwortet die Vernunft:<lb/>
Es muß eine mir unbekannte Regel geben, nach der auch die-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;es</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272/0280] mit uns einigen wollen; die ſind ſchon die Glücklichen, die Begünſtigten, die ſolche Maſſe nur erkennen: machen Sie ſich dieſen Vortheil ganz zu Nutze! Umgehn, umfliegen Sie ſie; gehn Sie nie heran, als an ein ſchon verarbeitetes belebtes Glied, welches mit dem Herzenskern in lebendiger Verbindung ſteht, ſie umarmen zu wollen; wobei nur das harte Anſtoßen die richtige Strafe des Irrthums, des Selbſt- ſchmeichelns, zu gewinnen ſteht. Verzeihen, verzeihen Sie verehrter Freund, daß ich Sie belehren will! — — Sonntag, den 8. März 1827. Alle andere Bewunderte ſagen freilich auch Wahrheiten; aber Goethe giebt Wahrheit; ein Ganzes, einen Grund ha- bendes Zuſammenhängendes durch die Wahrheiten, die er ſagt. Bei Jean Pauls Titan. Bei Jakobi’s und Wielands Briefen. 1827. Vernunft iſt das Vermögen — oder beſſer ausgedrückt — die Regel in unſerm Geiſte, nach welcher wir jedesmal von neuem die Regel zum Verſtehen erfinden können. — Das iſt nun ſo zu verſtehen: Vernunft iſt eine Regel in uns, nicht die wir machen, wir beſitzen ſie nur leidend, wir finden ſie in uns vor; wir gebrauchen ſie nur thätig, als Maß. Sie iſt außerperſönlich, ſie iſt ein Mitgift in uns, die uns antwortet. Die Vernunft antwortet uns z. B. auf die Frage: Was ſollen wir auf unverſtändliche Dinge, als etwa zu einem Wunder, ſagen? Da antwortet die Vernunft: Es muß eine mir unbekannte Regel geben, nach der auch die- ſes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/280
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/280>, abgerufen am 22.12.2024.