Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Schmerzen, deuten. Elemente und ihre Modifikationen kön-
nen nicht in's Organische kommen: physische Schmerzen; die
Leiden, der Mangel, nicht richtig vertheilt werden: Seelen-
schmerzen. Sie mit dieser Einsicht einwilligend tragen, mil-
dert sie. Ich übernehme etwas in Gottes Natur, wenn ich
leide: es wird wohl richtig sein; am besten, mildesten so: lin-
dert sehr.



An Henrich Steffens, in Breslau.

Sonnenschein; ja, aber melancholisch ist er, so hell er
auch macht: er erregt Vorstellungen, Erinnerungen, die er
nicht erfüllt: durch die Scheiben die angedunkelten Dächer ge-
gen erhelltes Blau zu sehen, ist schön; und das Ganze der
Luft, der Helligkeit, zieht wie Lichter und Lüfte des erlösten
Frühlings durchs Herz; denn, jede Jahr- Monat- und Ta-
geszeit hat ihre eigene Proportion von Licht und Luft. Aber
dies alles geht in unorganisirtem, formlosen, krampfvollen
Wetter vor sich, wo eine Art Wind, wie ein toller böser Hund,
bis tief unten gekommen ist, und die Erde mit seiner Schnauze
gepackt hat und zaust. So ist er -- hat man so etwas er-
lebt
! -- seit längerer Zeit, jetzt heftig kalt, wenn er aus
Süden kommt. Seit mehreren Jahren giebt es nur noch er-
löste Augenblicke, wo eine Jahrszeit herrscht, und frei ist,
ohne bis in Minuten hinein mit -- beinah allen -- an-
dern gemischt da zu sein, zu wirken und zu kämpfen. Ich

Schmerzen, deuten. Elemente und ihre Modifikationen kön-
nen nicht in’s Organiſche kommen: phyſiſche Schmerzen; die
Leiden, der Mangel, nicht richtig vertheilt werden: Seelen-
ſchmerzen. Sie mit dieſer Einſicht einwilligend tragen, mil-
dert ſie. Ich übernehme etwas in Gottes Natur, wenn ich
leide: es wird wohl richtig ſein; am beſten, mildeſten ſo: lin-
dert ſehr.



An Henrich Steffens, in Breslau.

Sonnenſchein; ja, aber melancholiſch iſt er, ſo hell er
auch macht: er erregt Vorſtellungen, Erinnerungen, die er
nicht erfüllt: durch die Scheiben die angedunkelten Dächer ge-
gen erhelltes Blau zu ſehen, iſt ſchön; und das Ganze der
Luft, der Helligkeit, zieht wie Lichter und Lüfte des erlöſten
Frühlings durchs Herz; denn, jede Jahr- Monat- und Ta-
geszeit hat ihre eigene Proportion von Licht und Luft. Aber
dies alles geht in unorganiſirtem, formloſen, krampfvollen
Wetter vor ſich, wo eine Art Wind, wie ein toller böſer Hund,
bis tief unten gekommen iſt, und die Erde mit ſeiner Schnauze
gepackt hat und zauſt. So iſt er — hat man ſo etwas er-
lebt
! — ſeit längerer Zeit, jetzt heftig kalt, wenn er aus
Süden kommt. Seit mehreren Jahren giebt es nur noch er-
löſte Augenblicke, wo eine Jahrszeit herrſcht, und frei iſt,
ohne bis in Minuten hinein mit — beinah allen — an-
dern gemiſcht da zu ſein, zu wirken und zu kämpfen. Ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0276" n="268"/>
Schmerzen, deuten. Elemente und ihre Modifikationen kön-<lb/>
nen nicht in&#x2019;s Organi&#x017F;che kommen: phy&#x017F;i&#x017F;che Schmerzen; die<lb/>
Leiden, der Mangel, nicht richtig vertheilt werden: Seelen-<lb/>
&#x017F;chmerzen. Sie mit die&#x017F;er Ein&#x017F;icht einwilligend tragen, mil-<lb/>
dert &#x017F;ie. Ich übernehme etwas in Gottes Natur, wenn ich<lb/>
leide: es wird wohl richtig &#x017F;ein; am be&#x017F;ten, milde&#x017F;ten &#x017F;o: lin-<lb/>
dert &#x017F;ehr.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>An Henrich Steffens, in Breslau.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Mittwoch, den 7. März 1827. 11 Uhr Morgens.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Sonnen&#x017F;chein; ja, aber melancholi&#x017F;ch i&#x017F;t er, &#x017F;o hell er<lb/>
auch macht: er erregt Vor&#x017F;tellungen, Erinnerungen, die er<lb/>
nicht erfüllt: durch die Scheiben die angedunkelten Dächer ge-<lb/>
gen erhelltes Blau zu &#x017F;ehen, i&#x017F;t &#x017F;chön; und das Ganze der<lb/>
Luft, der Helligkeit, zieht wie Lichter und Lüfte des erlö&#x017F;ten<lb/>
Frühlings durchs Herz; denn, jede Jahr- Monat- und Ta-<lb/>
geszeit hat ihre eigene Proportion von Licht und Luft. Aber<lb/>
dies alles geht in unorgani&#x017F;irtem, formlo&#x017F;en, krampfvollen<lb/>
Wetter vor &#x017F;ich, wo eine Art Wind, wie ein toller bö&#x017F;er Hund,<lb/>
bis tief unten gekommen i&#x017F;t, und die Erde mit &#x017F;einer Schnauze<lb/>
gepackt hat und zau&#x017F;t. So i&#x017F;t er &#x2014; hat man &#x017F;o etwas <hi rendition="#g">er-<lb/>
lebt</hi>! &#x2014; &#x017F;eit <hi rendition="#g">längerer</hi> Zeit, jetzt heftig kalt, wenn er aus<lb/>
Süden kommt. Seit mehreren Jahren giebt es nur noch er-<lb/>&#x017F;te <hi rendition="#g">Augenblicke</hi>, wo <hi rendition="#g">eine</hi> Jahrszeit herr&#x017F;cht, und frei i&#x017F;t,<lb/>
ohne bis in <hi rendition="#g">Minuten hinein</hi> mit &#x2014; beinah allen &#x2014; an-<lb/>
dern gemi&#x017F;cht da zu &#x017F;ein, zu wirken und zu kämpfen. Ich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[268/0276] Schmerzen, deuten. Elemente und ihre Modifikationen kön- nen nicht in’s Organiſche kommen: phyſiſche Schmerzen; die Leiden, der Mangel, nicht richtig vertheilt werden: Seelen- ſchmerzen. Sie mit dieſer Einſicht einwilligend tragen, mil- dert ſie. Ich übernehme etwas in Gottes Natur, wenn ich leide: es wird wohl richtig ſein; am beſten, mildeſten ſo: lin- dert ſehr. An Henrich Steffens, in Breslau. Mittwoch, den 7. März 1827. 11 Uhr Morgens. Sonnenſchein; ja, aber melancholiſch iſt er, ſo hell er auch macht: er erregt Vorſtellungen, Erinnerungen, die er nicht erfüllt: durch die Scheiben die angedunkelten Dächer ge- gen erhelltes Blau zu ſehen, iſt ſchön; und das Ganze der Luft, der Helligkeit, zieht wie Lichter und Lüfte des erlöſten Frühlings durchs Herz; denn, jede Jahr- Monat- und Ta- geszeit hat ihre eigene Proportion von Licht und Luft. Aber dies alles geht in unorganiſirtem, formloſen, krampfvollen Wetter vor ſich, wo eine Art Wind, wie ein toller böſer Hund, bis tief unten gekommen iſt, und die Erde mit ſeiner Schnauze gepackt hat und zauſt. So iſt er — hat man ſo etwas er- lebt! — ſeit längerer Zeit, jetzt heftig kalt, wenn er aus Süden kommt. Seit mehreren Jahren giebt es nur noch er- löſte Augenblicke, wo eine Jahrszeit herrſcht, und frei iſt, ohne bis in Minuten hinein mit — beinah allen — an- dern gemiſcht da zu ſein, zu wirken und zu kämpfen. Ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/276
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/276>, abgerufen am 22.12.2024.