ziehendes und darauf Begründetes. Und weil wir die Gründe zu diesen Fakta nicht kennen können, so muß da dann immer das Gemüth eintreten; heißt: sich aus Bedürfniß -- welches eigentlich wir selbst sind -- einen Grund, eine Voraussetzung in einem andern Gebiete schaffen -- fast erschaffen, -- und das mit Recht. Wo wir herstammen, und wo wir hinströ- men, das sind so gut Glieder von uns, als die, welche wir im zeitigen Gebrauch haben. "Wer nicht verzweiflen kann, der muß nicht leben!" sagt auch der Mann, der -- und auch aus diesem Gesichtspunkt mein' ich -- am vielfachsten, was uns Menschen betrifft, gehandhabt, erwogen, und ergründet hat, mit Herzens- und Geisteskräften, und der ein gesundes Menschenkind geblieben ist, wie er anfing, mit allen derben natürlichen Ansprüchen. Goethe sagt's. --
Sonnabend, den 29. Januar 1825.
Es war mir schon lange zuwider, verheirathete Priester zu sehn; und ich konnte mir auch manchen Grund davon an- geben, aber keinen vollständigen. Nun sind mir aber die Gründe dieses Eindrucks plötzlich erhellt, durch einen Blick auf die jüdischen Priester, deren Ehen mir nicht störlich vorkommen. Ein Priester Israels, Moses vorauf, war ein prophetischer; ein Gesandter, Auserwählter, ein Verkündiger; ohne sein Zu- thun, ohne seine Wahl. In einem Stamm pflanzten sie sich fort. Moses empfing und verkündete Gesetze: strenge, scharfe, bei Strafe: ohne Raisonnement; von Gott aus, eine Religion also, für Kindermenschen. Der Christen Lehre ist eine Phi-
ziehendes und darauf Begründetes. Und weil wir die Gründe zu dieſen Fakta nicht kennen können, ſo muß da dann immer das Gemüth eintreten; heißt: ſich aus Bedürfniß — welches eigentlich wir ſelbſt ſind — einen Grund, eine Vorausſetzung in einem andern Gebiete ſchaffen — faſt erſchaffen, — und das mit Recht. Wo wir herſtammen, und wo wir hinſtrö- men, das ſind ſo gut Glieder von uns, als die, welche wir im zeitigen Gebrauch haben. „Wer nicht verzweiflen kann, der muß nicht leben!“ ſagt auch der Mann, der — und auch aus dieſem Geſichtspunkt mein’ ich — am vielfachſten, was uns Menſchen betrifft, gehandhabt, erwogen, und ergründet hat, mit Herzens- und Geiſteskräften, und der ein geſundes Menſchenkind geblieben iſt, wie er anfing, mit allen derben natürlichen Anſprüchen. Goethe ſagt’s. —
Sonnabend, den 29. Januar 1825.
Es war mir ſchon lange zuwider, verheirathete Prieſter zu ſehn; und ich konnte mir auch manchen Grund davon an- geben, aber keinen vollſtändigen. Nun ſind mir aber die Gründe dieſes Eindrucks plötzlich erhellt, durch einen Blick auf die jüdiſchen Prieſter, deren Ehen mir nicht ſtörlich vorkommen. Ein Prieſter Israels, Moſes vorauf, war ein prophetiſcher; ein Geſandter, Auserwählter, ein Verkündiger; ohne ſein Zu- thun, ohne ſeine Wahl. In einem Stamm pflanzten ſie ſich fort. Moſes empfing und verkündete Geſetze: ſtrenge, ſcharfe, bei Strafe: ohne Raiſonnement; von Gott aus, eine Religion alſo, für Kindermenſchen. Der Chriſten Lehre iſt eine Phi-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0189"n="181"/>
ziehendes und darauf Begründetes. Und weil wir die Gründe<lb/>
zu dieſen Fakta nicht kennen können, ſo muß da dann immer<lb/>
das Gemüth eintreten; heißt: ſich aus Bedürfniß — welches<lb/>
eigentlich wir ſelbſt ſind — einen Grund, eine Vorausſetzung<lb/>
in einem andern Gebiete <hirendition="#g">ſchaffen</hi>— faſt erſchaffen, — und<lb/>
das mit Recht. Wo wir herſtammen, und wo wir hinſtrö-<lb/>
men, das ſind ſo gut Glieder von uns, als die, welche wir<lb/>
im zeitigen Gebrauch haben. „Wer nicht verzweiflen kann,<lb/>
der muß nicht leben!“ſagt auch der Mann, der — und auch<lb/>
aus dieſem Geſichtspunkt mein’ ich — am vielfachſten, was<lb/>
uns Menſchen betrifft, gehandhabt, erwogen, und ergründet<lb/>
hat, mit Herzens- und Geiſteskräften, und der ein geſundes<lb/>
Menſchenkind geblieben iſt, wie er anfing, mit allen derben<lb/>
natürlichen Anſprüchen. Goethe ſagt’s. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Sonnabend, den 29. Januar 1825.</hi></dateline><lb/><p>Es war mir ſchon lange zuwider, verheirathete Prieſter<lb/>
zu ſehn; und ich konnte mir auch manchen Grund davon an-<lb/>
geben, aber keinen vollſtändigen. Nun ſind mir aber die<lb/>
Gründe dieſes Eindrucks plötzlich erhellt, durch einen Blick auf<lb/>
die jüdiſchen Prieſter, deren Ehen mir nicht ſtörlich vorkommen.<lb/>
Ein Prieſter Israels, Moſes vorauf, war ein prophetiſcher;<lb/>
ein Geſandter, Auserwählter, ein Verkündiger; ohne ſein Zu-<lb/>
thun, ohne ſeine Wahl. In einem Stamm pflanzten ſie ſich<lb/>
fort. Moſes empfing und verkündete Geſetze: ſtrenge, ſcharfe,<lb/>
bei Strafe: ohne Raiſonnement; von Gott aus, eine Religion<lb/>
alſo, für Kindermenſchen. Der Chriſten <hirendition="#g">Lehre</hi> iſt eine Phi-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[181/0189]
ziehendes und darauf Begründetes. Und weil wir die Gründe
zu dieſen Fakta nicht kennen können, ſo muß da dann immer
das Gemüth eintreten; heißt: ſich aus Bedürfniß — welches
eigentlich wir ſelbſt ſind — einen Grund, eine Vorausſetzung
in einem andern Gebiete ſchaffen — faſt erſchaffen, — und
das mit Recht. Wo wir herſtammen, und wo wir hinſtrö-
men, das ſind ſo gut Glieder von uns, als die, welche wir
im zeitigen Gebrauch haben. „Wer nicht verzweiflen kann,
der muß nicht leben!“ ſagt auch der Mann, der — und auch
aus dieſem Geſichtspunkt mein’ ich — am vielfachſten, was
uns Menſchen betrifft, gehandhabt, erwogen, und ergründet
hat, mit Herzens- und Geiſteskräften, und der ein geſundes
Menſchenkind geblieben iſt, wie er anfing, mit allen derben
natürlichen Anſprüchen. Goethe ſagt’s. —
Sonnabend, den 29. Januar 1825.
Es war mir ſchon lange zuwider, verheirathete Prieſter
zu ſehn; und ich konnte mir auch manchen Grund davon an-
geben, aber keinen vollſtändigen. Nun ſind mir aber die
Gründe dieſes Eindrucks plötzlich erhellt, durch einen Blick auf
die jüdiſchen Prieſter, deren Ehen mir nicht ſtörlich vorkommen.
Ein Prieſter Israels, Moſes vorauf, war ein prophetiſcher;
ein Geſandter, Auserwählter, ein Verkündiger; ohne ſein Zu-
thun, ohne ſeine Wahl. In einem Stamm pflanzten ſie ſich
fort. Moſes empfing und verkündete Geſetze: ſtrenge, ſcharfe,
bei Strafe: ohne Raiſonnement; von Gott aus, eine Religion
alſo, für Kindermenſchen. Der Chriſten Lehre iſt eine Phi-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/189>, abgerufen am 20.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.