Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

unsre Philosophie nicht in diesen Körper hinein operirt. Da-
rum wird auch jede von der neusten hart angegriffen. Was
der Geist vermag, und nicht vermag, kann sie zeigen: vom
Andern wissen wir nichts, und kennen doch seine Existenz;
heißt, sein Wirken. So angesehn, ist Liebe der Inbegriff von
allem; aber nicht das bischen auf Nebenmenschen aus Barm-
herzigkeit angewandte: sondern jene vielstimmigste Zustimmung,
von der wir ein bewußtvoller, gefühlvoller Ton sind; der sich
selbst nicht kennt.




Zu Novalis Aphorismen.

"Man versteht das Künstliche gewöhnlich besser als das
Natürliche. Es gehört mehr Geist zum Einfachen, als zum
Komplizirten, aber weniger Talent." (S. 395.) Es ist nicht
ganz verständlich, von welchem Natürlichen hier die Rede ist. --

"Jede Wissenschaft hat ihren Gott" etc. Dann sagt er
am Ende: "Jede immer getäuschte und immer erneuerte Er-
wartung deutet auf ein Kapital in der Zukunftslehre hin. --
Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur
Dinge." (S. 396.) Ich finde auch nur überall, und am Ende,
ein Defizit -- verlornes, zu suchendes Kapital: daher sind
mir willkürliche Lügen und Fablen -- wenn man sie, wie in
der Poesie, nicht dafür ausgiebt, und dadurch zu Wahrheit
erhebt, weil man dann zeigt, daß man dieses Verfahrens be-
nöthigt ist -- womit man dies decken und beschönigen will,

unſre Philoſophie nicht in dieſen Körper hinein operirt. Da-
rum wird auch jede von der neuſten hart angegriffen. Was
der Geiſt vermag, und nicht vermag, kann ſie zeigen: vom
Andern wiſſen wir nichts, und kennen doch ſeine Exiſtenz;
heißt, ſein Wirken. So angeſehn, iſt Liebe der Inbegriff von
allem; aber nicht das bischen auf Nebenmenſchen aus Barm-
herzigkeit angewandte: ſondern jene vielſtimmigſte Zuſtimmung,
von der wir ein bewußtvoller, gefühlvoller Ton ſind; der ſich
ſelbſt nicht kennt.




Zu Novalis Aphorismen.

„Man verſteht das Künſtliche gewöhnlich beſſer als das
Natürliche. Es gehört mehr Geiſt zum Einfachen, als zum
Komplizirten, aber weniger Talent.“ (S. 395.) Es iſt nicht
ganz verſtändlich, von welchem Natürlichen hier die Rede iſt. —

„Jede Wiſſenſchaft hat ihren Gott“ ꝛc. Dann ſagt er
am Ende: „Jede immer getäuſchte und immer erneuerte Er-
wartung deutet auf ein Kapital in der Zukunftslehre hin. —
Wir ſuchen überall das Unbedingte, und finden immer nur
Dinge.“ (S. 396.) Ich finde auch nur überall, und am Ende,
ein Defizit — verlornes, zu ſuchendes Kapital: daher ſind
mir willkürliche Lügen und Fablen — wenn man ſie, wie in
der Poeſie, nicht dafür ausgiebt, und dadurch zu Wahrheit
erhebt, weil man dann zeigt, daß man dieſes Verfahrens be-
nöthigt iſt — womit man dies decken und beſchönigen will,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0149" n="141"/>
un&#x017F;re Philo&#x017F;ophie nicht in die&#x017F;en Körper hinein operirt. Da-<lb/>
rum wird auch jede von der neu&#x017F;ten hart angegriffen. Was<lb/>
der Gei&#x017F;t vermag, und nicht vermag, kann &#x017F;ie zeigen: vom<lb/>
Andern wi&#x017F;&#x017F;en wir nichts, und kennen doch &#x017F;eine Exi&#x017F;tenz;<lb/>
heißt, &#x017F;ein Wirken. So ange&#x017F;ehn, i&#x017F;t Liebe der Inbegriff von<lb/>
allem; aber nicht das bischen auf Nebenmen&#x017F;chen aus Barm-<lb/>
herzigkeit angewandte: &#x017F;ondern jene viel&#x017F;timmig&#x017F;te Zu&#x017F;timmung,<lb/>
von der wir ein bewußtvoller, gefühlvoller Ton &#x017F;ind; der &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t nicht kennt.</p><lb/>
            <dateline> <hi rendition="#et">Sonnabend, den 13. März 1824.</hi> </dateline>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>Zu Novalis Aphorismen.</head><lb/>
          <div n="3">
            <p>&#x201E;Man ver&#x017F;teht das Kün&#x017F;tliche gewöhnlich be&#x017F;&#x017F;er als das<lb/>
Natürliche. Es gehört mehr Gei&#x017F;t zum Einfachen, als zum<lb/>
Komplizirten, aber weniger Talent.&#x201C; (S. 395.) Es i&#x017F;t nicht<lb/>
ganz ver&#x017F;tändlich, von welchem Natürlichen hier die Rede i&#x017F;t. &#x2014;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Jede Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft hat ihren Gott&#x201C; &#xA75B;c. Dann &#x017F;agt er<lb/>
am Ende: &#x201E;Jede immer getäu&#x017F;chte und immer erneuerte Er-<lb/>
wartung deutet auf ein Kapital in der Zukunftslehre hin. &#x2014;<lb/>
Wir &#x017F;uchen überall das Unbedingte, und finden immer nur<lb/>
Dinge.&#x201C; (S. 396.) Ich finde auch nur überall, und am Ende,<lb/>
ein <hi rendition="#g">Defizit</hi> &#x2014; verlornes, zu &#x017F;uchendes Kapital: daher &#x017F;ind<lb/>
mir willkürliche Lügen und Fablen &#x2014; wenn man &#x017F;ie, wie in<lb/>
der Poe&#x017F;ie, nicht dafür ausgiebt, und dadurch zu Wahrheit<lb/>
erhebt, weil man dann zeigt, daß man die&#x017F;es Verfahrens be-<lb/>
nöthigt i&#x017F;t &#x2014; womit man dies decken und be&#x017F;chönigen will,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0149] unſre Philoſophie nicht in dieſen Körper hinein operirt. Da- rum wird auch jede von der neuſten hart angegriffen. Was der Geiſt vermag, und nicht vermag, kann ſie zeigen: vom Andern wiſſen wir nichts, und kennen doch ſeine Exiſtenz; heißt, ſein Wirken. So angeſehn, iſt Liebe der Inbegriff von allem; aber nicht das bischen auf Nebenmenſchen aus Barm- herzigkeit angewandte: ſondern jene vielſtimmigſte Zuſtimmung, von der wir ein bewußtvoller, gefühlvoller Ton ſind; der ſich ſelbſt nicht kennt. Sonnabend, den 13. März 1824. Zu Novalis Aphorismen. „Man verſteht das Künſtliche gewöhnlich beſſer als das Natürliche. Es gehört mehr Geiſt zum Einfachen, als zum Komplizirten, aber weniger Talent.“ (S. 395.) Es iſt nicht ganz verſtändlich, von welchem Natürlichen hier die Rede iſt. — „Jede Wiſſenſchaft hat ihren Gott“ ꝛc. Dann ſagt er am Ende: „Jede immer getäuſchte und immer erneuerte Er- wartung deutet auf ein Kapital in der Zukunftslehre hin. — Wir ſuchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ (S. 396.) Ich finde auch nur überall, und am Ende, ein Defizit — verlornes, zu ſuchendes Kapital: daher ſind mir willkürliche Lügen und Fablen — wenn man ſie, wie in der Poeſie, nicht dafür ausgiebt, und dadurch zu Wahrheit erhebt, weil man dann zeigt, daß man dieſes Verfahrens be- nöthigt iſt — womit man dies decken und beſchönigen will,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/149
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/149>, abgerufen am 22.12.2024.