aufmerksam auf die ganze Welt, jugendlich keinen Genuß noch nicht fordernd; lief ich bis zu meinem jetzigen Alter umher! Arm find' ich mich: und ohne Anspruch; und schweige. Alle Kräfte, jede Neigung hab' ich aufgeboten, das ganze Herz gegeben. Und bin verspottet. Kein Opfer hab' ich mehr zu bringen. Nun bin ich müde: die kleinste Verstellung ist mir zu viel: und ehrlich ist alles was ich sein kann. Brüsque scheint bei mir alles: und wirklich ist man es, wenn man keine Zeit, keine Kräfte mehr verlieren will. --
Mittwoch, den 21. Mai 1807.
Wer mich verkennt, beleidigt; kennt mich nicht; ist kein Mensch, ist eine Sache für mich. -- Wir sind Alle nicht exquis: und wollen immer, wenn wir nur können, sehr sanft sein! Es macht uns ruhig. Und da uns Alle einmal die Erde um- schließt, und wir auf ihr beinah in Einem Kampf, oder Druck bleiben; so wollen wir uns wie Einen ansehen, und unsere Krankheiten, wie die unserer Glieder, pflegen, heilen, schonen, vermeiden, ertragen. Wie moralisch! wie sanft! Mir kommt's aber heute so vor. Kann ich mich für eine jähe Be- leidigung, für eine Effronterie, nicht gleich rächen, so vergeht sie für mich. Was soll ich machen! -- Es war nicht viel, weil es geschehen konnte: -- es lag in den Umständen, daß es möglich war; und dies sind die Minister der Götter, sie tragen uns, wenn wir nicht kämpfen, wenn wir uns darauf hinlegen. Kurz, leicht, leicht: und lieb, lieb! --
aufmerkſam auf die ganze Welt, jugendlich keinen Genuß noch nicht fordernd; lief ich bis zu meinem jetzigen Alter umher! Arm find’ ich mich: und ohne Anſpruch; und ſchweige. Alle Kräfte, jede Neigung hab’ ich aufgeboten, das ganze Herz gegeben. Und bin verſpottet. Kein Opfer hab’ ich mehr zu bringen. Nun bin ich müde: die kleinſte Verſtellung iſt mir zu viel: und ehrlich iſt alles was ich ſein kann. Brüsque ſcheint bei mir alles: und wirklich iſt man es, wenn man keine Zeit, keine Kräfte mehr verlieren will. —
Mittwoch, den 21. Mai 1807.
Wer mich verkennt, beleidigt; kennt mich nicht; iſt kein Menſch, iſt eine Sache für mich. — Wir ſind Alle nicht exquis: und wollen immer, wenn wir nur können, ſehr ſanft ſein! Es macht uns ruhig. Und da uns Alle einmal die Erde um- ſchließt, und wir auf ihr beinah in Einem Kampf, oder Druck bleiben; ſo wollen wir uns wie Einen anſehen, und unſere Krankheiten, wie die unſerer Glieder, pflegen, heilen, ſchonen, vermeiden, ertragen. Wie moraliſch! wie ſanft! Mir kommt’s aber heute ſo vor. Kann ich mich für eine jähe Be- leidigung, für eine Effronterie, nicht gleich rächen, ſo vergeht ſie für mich. Was ſoll ich machen! — Es war nicht viel, weil es geſchehen konnte: — es lag in den Umſtänden, daß es möglich war; und dies ſind die Miniſter der Götter, ſie tragen uns, wenn wir nicht kämpfen, wenn wir uns darauf hinlegen. Kurz, leicht, leicht: und lieb, lieb! —
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0332"n="318"/>
aufmerkſam auf die ganze Welt, jugendlich keinen Genuß noch<lb/>
nicht fordernd; lief ich bis zu meinem jetzigen Alter umher!<lb/>
Arm find’ ich mich: und ohne Anſpruch; und ſchweige. Alle<lb/>
Kräfte, jede Neigung hab’ ich aufgeboten, das <hirendition="#g">ganze</hi> Herz<lb/>
gegeben. Und bin <hirendition="#g">verſpottet</hi>. Kein Opfer hab’ ich mehr<lb/>
zu bringen. Nun bin ich müde: die <hirendition="#g">kleinſte</hi> Verſtellung iſt<lb/>
mir zu viel: und ehrlich iſt alles was ich ſein kann. Brüsque<lb/>ſcheint bei mir alles: und wirklich iſt man es, wenn man<lb/><hirendition="#g">keine</hi> Zeit, <hirendition="#g">keine</hi> Kräfte mehr <hirendition="#g">verlieren</hi> will. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Mittwoch, den 21. Mai 1807.</hi></dateline><lb/><p>Wer mich verkennt, beleidigt; kennt mich nicht; iſt kein<lb/>
Menſch, iſt eine Sache für mich. — Wir ſind Alle nicht exquis:<lb/>
und wollen immer, wenn wir nur können, ſehr ſanft ſein! Es<lb/>
macht uns ruhig. Und da uns Alle einmal die Erde um-<lb/>ſchließt, und wir <hirendition="#g">auf</hi> ihr beinah in Einem Kampf, oder<lb/><hirendition="#g">Druck</hi> bleiben; ſo wollen wir uns wie Einen anſehen, und<lb/>
unſere Krankheiten, wie die unſerer Glieder, pflegen, heilen,<lb/>ſchonen, vermeiden, ertragen. Wie moraliſch! wie ſanft! Mir<lb/>
kommt’s aber heute ſo vor. Kann ich mich für eine jähe Be-<lb/>
leidigung, für eine Effronterie, nicht gleich rächen, ſo vergeht<lb/>ſie für mich. Was ſoll ich machen! — Es war nicht viel,<lb/>
weil es geſchehen konnte: — es lag in den Umſtänden, daß<lb/>
es möglich war; und dies ſind die Miniſter der Götter,<lb/>ſie <hirendition="#g">tragen</hi> uns, wenn wir nicht kämpfen, wenn wir uns<lb/>
darauf hinlegen. Kurz, leicht, leicht: und lieb, lieb! —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div></body></text></TEI>
[318/0332]
aufmerkſam auf die ganze Welt, jugendlich keinen Genuß noch
nicht fordernd; lief ich bis zu meinem jetzigen Alter umher!
Arm find’ ich mich: und ohne Anſpruch; und ſchweige. Alle
Kräfte, jede Neigung hab’ ich aufgeboten, das ganze Herz
gegeben. Und bin verſpottet. Kein Opfer hab’ ich mehr
zu bringen. Nun bin ich müde: die kleinſte Verſtellung iſt
mir zu viel: und ehrlich iſt alles was ich ſein kann. Brüsque
ſcheint bei mir alles: und wirklich iſt man es, wenn man
keine Zeit, keine Kräfte mehr verlieren will. —
Mittwoch, den 21. Mai 1807.
Wer mich verkennt, beleidigt; kennt mich nicht; iſt kein
Menſch, iſt eine Sache für mich. — Wir ſind Alle nicht exquis:
und wollen immer, wenn wir nur können, ſehr ſanft ſein! Es
macht uns ruhig. Und da uns Alle einmal die Erde um-
ſchließt, und wir auf ihr beinah in Einem Kampf, oder
Druck bleiben; ſo wollen wir uns wie Einen anſehen, und
unſere Krankheiten, wie die unſerer Glieder, pflegen, heilen,
ſchonen, vermeiden, ertragen. Wie moraliſch! wie ſanft! Mir
kommt’s aber heute ſo vor. Kann ich mich für eine jähe Be-
leidigung, für eine Effronterie, nicht gleich rächen, ſo vergeht
ſie für mich. Was ſoll ich machen! — Es war nicht viel,
weil es geſchehen konnte: — es lag in den Umſtänden, daß
es möglich war; und dies ſind die Miniſter der Götter,
ſie tragen uns, wenn wir nicht kämpfen, wenn wir uns
darauf hinlegen. Kurz, leicht, leicht: und lieb, lieb! —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/332>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.