Hab ich nicht mehr, als ich verdiente? Und mehr als ich verbrauchen kan? Wenn ich zu klagen mich erkühnte, So klagt mich der weit Aermre an.
Der Mensch ist meistens reicher als er es denkt. Ja, wenn wir den Ungenügsamen fragen, was Reichthum sey: so wird mehr dazu erfodert, als ganze Provinzen in langer Zeit hervorbringen können. Fragen wir, wer dürftig sey? so melden sich tausend Stimmen: für reich aber mag sich niemand ausge- ben. Undankbares Geschlecht! das dem allgütigsten Geber so wenig Ehre zu machen sucht! Gleich dem unzufriedenen Land- mann, der uns alle Jahre Miswachs prophezeit, und von reifen und vollen Aehren versteckt die bevorstehende Hungersnoth berech- net, schreiet alles über Mangel und niemand hat zu viel. Aber soltest du, Unersättlicher! nur die Hälfte von deinem Ueberfluß verlieren: wie ungeberdig würdest du dich bei solcher wohlverdien- ten Strafe anstellen!
Lasset uns nicht mit Worten spielen. Derjenige ist nicht dürftig, welcher Nahrung und Kleider hat; und reich müssen wir den nennen, von dessen Vermögen noch zehn andre Menschen er- halten werden könten. Wolten wir ja unser Vermögen unrichtig angeben, so solten wir doch lieber von Reichthum und Wohlstand, als immer von Armut reden. Jenes würde doch mehr Zufrie- denheit mit Gott anzeigen: im letztern Fall aber sind wir miß- vergnügten Unterthanen gleich, welche bei täglichen Lustbarkeiten und Gelagen über unerschwingliche Abgaben seufzen, und doch jede neue Mode mitmachen. Unverschämt ist es von uns Kost- gängern, wenn wir die reichlich besetzte Tafel des grossen Haus- vaters beständig bereden. Höchst unverschämt, wenn wir Din- ge für nothwendig halten, ohne deren Besitz wir leben, gedeien
und
Der 23te Januar.
Hab ich nicht mehr, als ich verdiente? Und mehr als ich verbrauchen kan? Wenn ich zu klagen mich erkuͤhnte, So klagt mich der weit Aermre an.
Der Menſch iſt meiſtens reicher als er es denkt. Ja, wenn wir den Ungenuͤgſamen fragen, was Reichthum ſey: ſo wird mehr dazu erfodert, als ganze Provinzen in langer Zeit hervorbringen koͤnnen. Fragen wir, wer duͤrftig ſey? ſo melden ſich tauſend Stimmen: fuͤr reich aber mag ſich niemand ausge- ben. Undankbares Geſchlecht! das dem allguͤtigſten Geber ſo wenig Ehre zu machen ſucht! Gleich dem unzufriedenen Land- mann, der uns alle Jahre Miswachs prophezeit, und von reifen und vollen Aehren verſteckt die bevorſtehende Hungersnoth berech- net, ſchreiet alles uͤber Mangel und niemand hat zu viel. Aber ſolteſt du, Unerſaͤttlicher! nur die Haͤlfte von deinem Ueberfluß verlieren: wie ungeberdig wuͤrdeſt du dich bei ſolcher wohlverdien- ten Strafe anſtellen!
Laſſet uns nicht mit Worten ſpielen. Derjenige iſt nicht duͤrftig, welcher Nahrung und Kleider hat; und reich muͤſſen wir den nennen, von deſſen Vermoͤgen noch zehn andre Menſchen er- halten werden koͤnten. Wolten wir ja unſer Vermoͤgen unrichtig angeben, ſo ſolten wir doch lieber von Reichthum und Wohlſtand, als immer von Armut reden. Jenes wuͤrde doch mehr Zufrie- denheit mit Gott anzeigen: im letztern Fall aber ſind wir miß- vergnuͤgten Unterthanen gleich, welche bei taͤglichen Luſtbarkeiten und Gelagen uͤber unerſchwingliche Abgaben ſeufzen, und doch jede neue Mode mitmachen. Unverſchaͤmt iſt es von uns Koſt- gaͤngern, wenn wir die reichlich beſetzte Tafel des groſſen Haus- vaters beſtaͤndig bereden. Hoͤchſt unverſchaͤmt, wenn wir Din- ge fuͤr nothwendig halten, ohne deren Beſitz wir leben, gedeien
und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0084"n="47[77]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head>Der 23<hirendition="#sup">te</hi> Januar.</head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">H</hi>ab ich nicht mehr, als ich verdiente?</l><lb/><l>Und mehr als ich verbrauchen kan?</l><lb/><l>Wenn ich zu klagen mich erkuͤhnte,</l><lb/><l>So klagt mich der weit Aermre an.</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>er <hirendition="#fr">Menſch iſt meiſtens reicher als er es denkt.</hi> Ja,<lb/>
wenn wir den Ungenuͤgſamen fragen, was Reichthum ſey:<lb/>ſo wird mehr dazu erfodert, als ganze Provinzen in langer Zeit<lb/>
hervorbringen koͤnnen. Fragen wir, wer duͤrftig ſey? ſo melden<lb/>ſich tauſend Stimmen: fuͤr reich aber mag ſich niemand ausge-<lb/>
ben. Undankbares Geſchlecht! das dem allguͤtigſten Geber ſo<lb/>
wenig Ehre zu machen ſucht! Gleich dem unzufriedenen Land-<lb/>
mann, der uns alle Jahre Miswachs prophezeit, und von reifen<lb/>
und vollen Aehren verſteckt die bevorſtehende Hungersnoth berech-<lb/>
net, ſchreiet alles uͤber Mangel und niemand hat zu viel. Aber<lb/>ſolteſt du, Unerſaͤttlicher! nur die Haͤlfte von deinem Ueberfluß<lb/>
verlieren: wie ungeberdig wuͤrdeſt du dich bei ſolcher wohlverdien-<lb/>
ten Strafe anſtellen!</p><lb/><p>Laſſet uns nicht mit Worten ſpielen. Derjenige iſt nicht<lb/>
duͤrftig, welcher Nahrung und Kleider hat; und reich muͤſſen wir<lb/>
den nennen, von deſſen Vermoͤgen noch zehn andre Menſchen er-<lb/>
halten werden koͤnten. Wolten wir ja unſer Vermoͤgen unrichtig<lb/>
angeben, ſo ſolten wir doch lieber von Reichthum und Wohlſtand,<lb/>
als immer von Armut reden. Jenes wuͤrde doch mehr Zufrie-<lb/>
denheit mit Gott anzeigen: im letztern Fall aber ſind wir miß-<lb/>
vergnuͤgten Unterthanen gleich, welche bei taͤglichen Luſtbarkeiten<lb/>
und Gelagen uͤber unerſchwingliche Abgaben ſeufzen, und doch<lb/>
jede neue Mode mitmachen. Unverſchaͤmt iſt es von uns Koſt-<lb/>
gaͤngern, wenn wir die reichlich beſetzte Tafel des groſſen Haus-<lb/>
vaters beſtaͤndig bereden. Hoͤchſt unverſchaͤmt, wenn wir Din-<lb/>
ge fuͤr nothwendig halten, ohne deren Beſitz wir leben, gedeien<lb/><fwplace="bottom"type="catch">und</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[47[77]/0084]
Der 23te Januar.
Hab ich nicht mehr, als ich verdiente?
Und mehr als ich verbrauchen kan?
Wenn ich zu klagen mich erkuͤhnte,
So klagt mich der weit Aermre an.
Der Menſch iſt meiſtens reicher als er es denkt. Ja,
wenn wir den Ungenuͤgſamen fragen, was Reichthum ſey:
ſo wird mehr dazu erfodert, als ganze Provinzen in langer Zeit
hervorbringen koͤnnen. Fragen wir, wer duͤrftig ſey? ſo melden
ſich tauſend Stimmen: fuͤr reich aber mag ſich niemand ausge-
ben. Undankbares Geſchlecht! das dem allguͤtigſten Geber ſo
wenig Ehre zu machen ſucht! Gleich dem unzufriedenen Land-
mann, der uns alle Jahre Miswachs prophezeit, und von reifen
und vollen Aehren verſteckt die bevorſtehende Hungersnoth berech-
net, ſchreiet alles uͤber Mangel und niemand hat zu viel. Aber
ſolteſt du, Unerſaͤttlicher! nur die Haͤlfte von deinem Ueberfluß
verlieren: wie ungeberdig wuͤrdeſt du dich bei ſolcher wohlverdien-
ten Strafe anſtellen!
Laſſet uns nicht mit Worten ſpielen. Derjenige iſt nicht
duͤrftig, welcher Nahrung und Kleider hat; und reich muͤſſen wir
den nennen, von deſſen Vermoͤgen noch zehn andre Menſchen er-
halten werden koͤnten. Wolten wir ja unſer Vermoͤgen unrichtig
angeben, ſo ſolten wir doch lieber von Reichthum und Wohlſtand,
als immer von Armut reden. Jenes wuͤrde doch mehr Zufrie-
denheit mit Gott anzeigen: im letztern Fall aber ſind wir miß-
vergnuͤgten Unterthanen gleich, welche bei taͤglichen Luſtbarkeiten
und Gelagen uͤber unerſchwingliche Abgaben ſeufzen, und doch
jede neue Mode mitmachen. Unverſchaͤmt iſt es von uns Koſt-
gaͤngern, wenn wir die reichlich beſetzte Tafel des groſſen Haus-
vaters beſtaͤndig bereden. Hoͤchſt unverſchaͤmt, wenn wir Din-
ge fuͤr nothwendig halten, ohne deren Beſitz wir leben, gedeien
und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 47[77]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/84>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.