Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 25te April.
Jch janchze, daß ich sehen kan
Und hören und empfinden
Und reden. Beteu will ich an,
Gott sehen und empfinden.
Mein Mund sey voll von deinem Dank,
Und deiner Schöpfung Lobgesang.
Sey mein Gehör gewidmet!


Das Vermögen zu reden ist eine der größten, aber uner-
kantesten Wohlthaten Gottes. Was wäre die Vernunft,
wenn wir uns ihre Würkungen einander nicht mittheilen könten!
Selbst Thiere, je klüger sie sind, desto mehr entdeckt man eine
Art von Sprache an ihnen, oder ein Vermögen, sich unter ein-
ander zu verstehen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die erste Men-
schen nur unförmliche Töne, aber noch keine Sprache gehabt hät-
ten, wenn sie ihnen nicht von Gott wunderbar auf einmal wäre
beigebracht worden. Und welche uns unbekante Abfichten hat
Gott nicht, seit dem Thurmbau Babels, durch die verschiedne
Sprachen der Nationen ausgeführet! Ohne diese Verschiedenheit,
welche Langeweile für die große Welt!

Jch kan reden: und das ist ein Werk des allgütigen Schö-
pfers. Ein Werk abergläubiger Menschen war es, das Stumm-
seyn für verdienstlich zu halten und es zur Regel heilig seyn sollen-
der Orden zu machen. Solche Stiftungen machten jetzt ihr
Glück nicht mehr, und wer weiß, ob sie sich noch Jahrhunderte
erhalten. Jch würde mich selbst entehren, wenn ich muthwillig
stumm seyn wolte. Aber ich entehre mich auch eben so sehr, wenn
ich ohne Verstand schwatze, und mehr plaudre, als nützlich ist.
Ward jede göttliche Wohlthat auf Rechnung gegeben, so muß die
Verantwortung von meinem Reden erstaunend groß seyn. Der

Mensch


Der 25te April.
Jch janchze, daß ich ſehen kan
Und hoͤren und empfinden
Und reden. Beteu will ich an,
Gott ſehen und empfinden.
Mein Mund ſey voll von deinem Dank,
Und deiner Schoͤpfung Lobgeſang.
Sey mein Gehoͤr gewidmet!


Das Vermoͤgen zu reden iſt eine der groͤßten, aber uner-
kanteſten Wohlthaten Gottes. Was waͤre die Vernunft,
wenn wir uns ihre Wuͤrkungen einander nicht mittheilen koͤnten!
Selbſt Thiere, je kluͤger ſie ſind, deſto mehr entdeckt man eine
Art von Sprache an ihnen, oder ein Vermoͤgen, ſich unter ein-
ander zu verſtehen. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die erſte Men-
ſchen nur unfoͤrmliche Toͤne, aber noch keine Sprache gehabt haͤt-
ten, wenn ſie ihnen nicht von Gott wunderbar auf einmal waͤre
beigebracht worden. Und welche uns unbekante Abfichten hat
Gott nicht, ſeit dem Thurmbau Babels, durch die verſchiedne
Sprachen der Nationen ausgefuͤhret! Ohne dieſe Verſchiedenheit,
welche Langeweile fuͤr die große Welt!

Jch kan reden: und das iſt ein Werk des allguͤtigen Schoͤ-
pfers. Ein Werk aberglaͤubiger Menſchen war es, das Stumm-
ſeyn fuͤr verdienſtlich zu halten und es zur Regel heilig ſeyn ſollen-
der Orden zu machen. Solche Stiftungen machten jetzt ihr
Gluͤck nicht mehr, und wer weiß, ob ſie ſich noch Jahrhunderte
erhalten. Jch wuͤrde mich ſelbſt entehren, wenn ich muthwillig
ſtumm ſeyn wolte. Aber ich entehre mich auch eben ſo ſehr, wenn
ich ohne Verſtand ſchwatze, und mehr plaudre, als nuͤtzlich iſt.
Ward jede goͤttliche Wohlthat auf Rechnung gegeben, ſo muß die
Verantwortung von meinem Reden erſtaunend groß ſeyn. Der

Menſch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0276" n="239[269]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 25<hi rendition="#sup">te</hi> April.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">J</hi>ch janchze, daß ich &#x017F;ehen kan</l><lb/>
              <l>Und ho&#x0364;ren und empfinden</l><lb/>
              <l>Und reden. Beteu will ich an,</l><lb/>
              <l>Gott &#x017F;ehen und empfinden.</l><lb/>
              <l>Mein Mund &#x017F;ey voll von deinem Dank,</l><lb/>
              <l>Und deiner Scho&#x0364;pfung Lobge&#x017F;ang.</l><lb/>
              <l>Sey mein Geho&#x0364;r gewidmet!</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi><hi rendition="#fr">as Vermo&#x0364;gen zu reden</hi> i&#x017F;t eine der gro&#x0364;ßten, aber uner-<lb/>
kante&#x017F;ten Wohlthaten Gottes. Was wa&#x0364;re die Vernunft,<lb/>
wenn wir uns ihre Wu&#x0364;rkungen einander nicht mittheilen ko&#x0364;nten!<lb/>
Selb&#x017F;t Thiere, je klu&#x0364;ger &#x017F;ie &#x017F;ind, de&#x017F;to mehr entdeckt man eine<lb/>
Art von Sprache an ihnen, oder ein Vermo&#x0364;gen, &#x017F;ich unter ein-<lb/>
ander zu ver&#x017F;tehen. Es i&#x017F;t &#x017F;ehr wahr&#x017F;cheinlich, daß die er&#x017F;te Men-<lb/>
&#x017F;chen nur unfo&#x0364;rmliche To&#x0364;ne, aber noch keine Sprache gehabt ha&#x0364;t-<lb/>
ten, wenn &#x017F;ie ihnen nicht von Gott wunderbar auf einmal wa&#x0364;re<lb/>
beigebracht worden. Und welche uns unbekante Abfichten hat<lb/>
Gott nicht, &#x017F;eit dem Thurmbau Babels, durch die ver&#x017F;chiedne<lb/>
Sprachen der Nationen ausgefu&#x0364;hret! Ohne die&#x017F;e Ver&#x017F;chiedenheit,<lb/>
welche Langeweile fu&#x0364;r die große Welt!</p><lb/>
            <p>Jch kan reden: und das i&#x017F;t ein Werk des allgu&#x0364;tigen Scho&#x0364;-<lb/>
pfers. Ein Werk abergla&#x0364;ubiger Men&#x017F;chen war es, das Stumm-<lb/>
&#x017F;eyn fu&#x0364;r verdien&#x017F;tlich zu halten und es zur Regel heilig &#x017F;eyn &#x017F;ollen-<lb/>
der Orden zu machen. Solche Stiftungen machten jetzt ihr<lb/>
Glu&#x0364;ck nicht mehr, und wer weiß, ob &#x017F;ie &#x017F;ich noch Jahrhunderte<lb/>
erhalten. Jch wu&#x0364;rde mich &#x017F;elb&#x017F;t entehren, wenn ich muthwillig<lb/>
&#x017F;tumm &#x017F;eyn wolte. Aber ich entehre mich auch eben &#x017F;o &#x017F;ehr, wenn<lb/>
ich ohne Ver&#x017F;tand &#x017F;chwatze, und mehr plaudre, als nu&#x0364;tzlich i&#x017F;t.<lb/>
Ward jede go&#x0364;ttliche Wohlthat auf Rechnung gegeben, &#x017F;o muß die<lb/>
Verantwortung von meinem Reden er&#x017F;taunend groß &#x017F;eyn. Der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Men&#x017F;ch</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239[269]/0276] Der 25te April. Jch janchze, daß ich ſehen kan Und hoͤren und empfinden Und reden. Beteu will ich an, Gott ſehen und empfinden. Mein Mund ſey voll von deinem Dank, Und deiner Schoͤpfung Lobgeſang. Sey mein Gehoͤr gewidmet! Das Vermoͤgen zu reden iſt eine der groͤßten, aber uner- kanteſten Wohlthaten Gottes. Was waͤre die Vernunft, wenn wir uns ihre Wuͤrkungen einander nicht mittheilen koͤnten! Selbſt Thiere, je kluͤger ſie ſind, deſto mehr entdeckt man eine Art von Sprache an ihnen, oder ein Vermoͤgen, ſich unter ein- ander zu verſtehen. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die erſte Men- ſchen nur unfoͤrmliche Toͤne, aber noch keine Sprache gehabt haͤt- ten, wenn ſie ihnen nicht von Gott wunderbar auf einmal waͤre beigebracht worden. Und welche uns unbekante Abfichten hat Gott nicht, ſeit dem Thurmbau Babels, durch die verſchiedne Sprachen der Nationen ausgefuͤhret! Ohne dieſe Verſchiedenheit, welche Langeweile fuͤr die große Welt! Jch kan reden: und das iſt ein Werk des allguͤtigen Schoͤ- pfers. Ein Werk aberglaͤubiger Menſchen war es, das Stumm- ſeyn fuͤr verdienſtlich zu halten und es zur Regel heilig ſeyn ſollen- der Orden zu machen. Solche Stiftungen machten jetzt ihr Gluͤck nicht mehr, und wer weiß, ob ſie ſich noch Jahrhunderte erhalten. Jch wuͤrde mich ſelbſt entehren, wenn ich muthwillig ſtumm ſeyn wolte. Aber ich entehre mich auch eben ſo ſehr, wenn ich ohne Verſtand ſchwatze, und mehr plaudre, als nuͤtzlich iſt. Ward jede goͤttliche Wohlthat auf Rechnung gegeben, ſo muß die Verantwortung von meinem Reden erſtaunend groß ſeyn. Der Menſch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/276
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 239[269]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/276>, abgerufen am 24.08.2024.