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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 2te April.
Nichts minders als dein Herz
Mußt du der Tugend weihn!
Sonst hüllst du nur zum Scherz
Jn ihr Gewand dich ein.


So ehrwürdig sind die Tugenden, daß fast ein jeder ihren
Namen zu führen wünschet. Jeder Lasterhafte ist daher
in gewissem Verstande ein Heuchler, wolcher den Schein eines
Tugendhaften, wenigstens zu gewissen Zeiten haben will. Der
gröbste Missethäter spricht, und faltet seine Geberden vor seinen
Richtern dergestalt, als ob er das Gegentheil von sich selber wäre.
Und wenigstens im Tode mögte jeder gern ein Heiliger seyn.

Die gemißbrauchte Namen der Tugenden sind
eine falsche Münze, die jedermann nimt, wenn er sie wieder los
werden kan. Der Sünder künstelt so lange, bis er einen oder
einige findet, welche der dunkeln Farbe seines Lasters irgend ein
wenig ähnlich sehen. Jedem Laster stehet ein andres gerade ent-
gegen. Zwischen beiden wandelt eine Tugend die königliche Mit-
telstrasse durchhin. Gleich entfernt von Geiz und Verschwendung
befindet sich eine diesen Lastern entgegen gesetzte Tugend, welche
einen verschiednen Namen bekomt, je nachdem man sie von dieser
oder jener Seite her betrachtet. Von dem Standorte des Gei-
zes aus, heisset sie Sparsamkeit: aus dem entgegen stehenden
Gesichtspunkte nennet man sie Freigebigkeit. Beide Lasterhafte
würden zu unwahrscheinlich lügen, wenn sie diese Namen verwech-
selten und sich beilegten. So aber nennet sich der Geizige sparsam,
der Verschwender freigebig, weil diese Seite der Tugend ihnen nä-
her ist als jene. Eben so giebt sich der Stolze nicht für demütig

aus,
Tiedens Abendand. I. Th. N


Der 2te April.
Nichts minders als dein Herz
Mußt du der Tugend weihn!
Sonſt huͤllſt du nur zum Scherz
Jn ihr Gewand dich ein.


So ehrwuͤrdig ſind die Tugenden, daß faſt ein jeder ihren
Namen zu fuͤhren wuͤnſchet. Jeder Laſterhafte iſt daher
in gewiſſem Verſtande ein Heuchler, wolcher den Schein eines
Tugendhaften, wenigſtens zu gewiſſen Zeiten haben will. Der
groͤbſte Miſſethaͤter ſpricht, und faltet ſeine Geberden vor ſeinen
Richtern dergeſtalt, als ob er das Gegentheil von ſich ſelber waͤre.
Und wenigſtens im Tode moͤgte jeder gern ein Heiliger ſeyn.

Die gemißbrauchte Namen der Tugenden ſind
eine falſche Muͤnze, die jedermann nimt, wenn er ſie wieder los
werden kan. Der Suͤnder kuͤnſtelt ſo lange, bis er einen oder
einige findet, welche der dunkeln Farbe ſeines Laſters irgend ein
wenig aͤhnlich ſehen. Jedem Laſter ſtehet ein andres gerade ent-
gegen. Zwiſchen beiden wandelt eine Tugend die koͤnigliche Mit-
telſtraſſe durchhin. Gleich entfernt von Geiz und Verſchwendung
befindet ſich eine dieſen Laſtern entgegen geſetzte Tugend, welche
einen verſchiednen Namen bekomt, je nachdem man ſie von dieſer
oder jener Seite her betrachtet. Von dem Standorte des Gei-
zes aus, heiſſet ſie Sparſamkeit: aus dem entgegen ſtehenden
Geſichtspunkte nennet man ſie Freigebigkeit. Beide Laſterhafte
wuͤrden zu unwahrſcheinlich luͤgen, wenn ſie dieſe Namen verwech-
ſelten und ſich beilegten. So aber nennet ſich der Geizige ſparſam,
der Verſchwender freigebig, weil dieſe Seite der Tugend ihnen naͤ-
her iſt als jene. Eben ſo giebt ſich der Stolze nicht fuͤr demuͤtig

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[193[223]/0230] Der 2te April. Nichts minders als dein Herz Mußt du der Tugend weihn! Sonſt huͤllſt du nur zum Scherz Jn ihr Gewand dich ein. So ehrwuͤrdig ſind die Tugenden, daß faſt ein jeder ihren Namen zu fuͤhren wuͤnſchet. Jeder Laſterhafte iſt daher in gewiſſem Verſtande ein Heuchler, wolcher den Schein eines Tugendhaften, wenigſtens zu gewiſſen Zeiten haben will. Der groͤbſte Miſſethaͤter ſpricht, und faltet ſeine Geberden vor ſeinen Richtern dergeſtalt, als ob er das Gegentheil von ſich ſelber waͤre. Und wenigſtens im Tode moͤgte jeder gern ein Heiliger ſeyn. Die gemißbrauchte Namen der Tugenden ſind eine falſche Muͤnze, die jedermann nimt, wenn er ſie wieder los werden kan. Der Suͤnder kuͤnſtelt ſo lange, bis er einen oder einige findet, welche der dunkeln Farbe ſeines Laſters irgend ein wenig aͤhnlich ſehen. Jedem Laſter ſtehet ein andres gerade ent- gegen. Zwiſchen beiden wandelt eine Tugend die koͤnigliche Mit- telſtraſſe durchhin. Gleich entfernt von Geiz und Verſchwendung befindet ſich eine dieſen Laſtern entgegen geſetzte Tugend, welche einen verſchiednen Namen bekomt, je nachdem man ſie von dieſer oder jener Seite her betrachtet. Von dem Standorte des Gei- zes aus, heiſſet ſie Sparſamkeit: aus dem entgegen ſtehenden Geſichtspunkte nennet man ſie Freigebigkeit. Beide Laſterhafte wuͤrden zu unwahrſcheinlich luͤgen, wenn ſie dieſe Namen verwech- ſelten und ſich beilegten. So aber nennet ſich der Geizige ſparſam, der Verſchwender freigebig, weil dieſe Seite der Tugend ihnen naͤ- her iſt als jene. Eben ſo giebt ſich der Stolze nicht fuͤr demuͤtig aus, Tiedens Abendand. I. Th. N

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 193[223]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/230>, abgerufen am 21.11.2024.