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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 2te April.
aus, das wäre zu unwahrscheinlich, sondern für ehrliebend. Der
Niederträchtige hingegen wählet jenen Namen, weil er keinen
Glauben finden würde, wenn er von seiner Ehrliebe redete. Bei-
de Theile sehen also die zwischen ihnen stehende Tugend an, nähern
sich ihr aber nicht im geringsten; sondern begnügen sich, ihren
Namen anzunehmen, und die Farbe ihres Gewands, so wie es
nach ihrer Seite zu schattirt ist, so viel möglich in ihrer laster-
haften Tracht nachzuahmen. Sie sind den Schauspielern gleich,
welche einen königlichen Talar anlegen, dessen Schnitt sich zu
ihrer Rolle am besten schickt.

Wie? wenn auch ich mich betröge, und meine Tugenden
nur ein Theaterkleid wären! Das einzige Wort: Lebensart, ist
ein Chamäleon, welches alle Farben an sich nimt. Es hat Zei-
ten gegeben, (o! mögten sie doch nicht mehr seyn!) wo Mord im
Zweikampf, Betrügereien im Spiel, schamlose Unzucht und freche
Religionsspötterei, zur Lebensart und folglich zur Tugend eines
guten Gesellschafters gehörten! Die Namen dazu waren recht
tartüffisch gewählet. Es hies: brav, witzig, galant und mit
freiem Geiste leben.

Behüt mich, mein heiligster Jesu! für eine solche tugend-
scheinende Lebensart, die den gewissesten Tod nach sich ziehet. Und
wenn sie sich alle an dir ärgerten, und deine reine Gebote besudel-
ten: so will ich mich dennoch nicht an dir ärgern. Aber ich küh-
ner Petrus! wie frostig und neugierig stehe ich nicht immer da,
erwärme mich so gern an dem Kohlenfeuer der Welt, und ver-
gesse meine Tugenden und Gelübde! So lange dis noch geschieht,
führe ich nur den Namen, nicht aber das Wesen der Frömmig-
keit. Wie du, mein göttlicher Freund! unter allen Umständen
derselbe warst, so müsse auch ich jederzeit der Deinige seyn!
Meine jetzige Andacht sey nicht blos der Name, sondern würkliche
inbrünstige Andacht. Dann, Gott! erhörest du mich gern, und
gewährest mich aller meiner Bitten.

Der

Der 2te April.
aus, das waͤre zu unwahrſcheinlich, ſondern fuͤr ehrliebend. Der
Niedertraͤchtige hingegen waͤhlet jenen Namen, weil er keinen
Glauben finden wuͤrde, wenn er von ſeiner Ehrliebe redete. Bei-
de Theile ſehen alſo die zwiſchen ihnen ſtehende Tugend an, naͤhern
ſich ihr aber nicht im geringſten; ſondern begnuͤgen ſich, ihren
Namen anzunehmen, und die Farbe ihres Gewands, ſo wie es
nach ihrer Seite zu ſchattirt iſt, ſo viel moͤglich in ihrer laſter-
haften Tracht nachzuahmen. Sie ſind den Schauſpielern gleich,
welche einen koͤniglichen Talar anlegen, deſſen Schnitt ſich zu
ihrer Rolle am beſten ſchickt.

Wie? wenn auch ich mich betroͤge, und meine Tugenden
nur ein Theaterkleid waͤren! Das einzige Wort: Lebensart, iſt
ein Chamaͤleon, welches alle Farben an ſich nimt. Es hat Zei-
ten gegeben, (o! moͤgten ſie doch nicht mehr ſeyn!) wo Mord im
Zweikampf, Betruͤgereien im Spiel, ſchamloſe Unzucht und freche
Religionsſpoͤtterei, zur Lebensart und folglich zur Tugend eines
guten Geſellſchafters gehoͤrten! Die Namen dazu waren recht
tartuͤffiſch gewaͤhlet. Es hies: brav, witzig, galant und mit
freiem Geiſte leben.

Behuͤt mich, mein heiligſter Jeſu! fuͤr eine ſolche tugend-
ſcheinende Lebensart, die den gewiſſeſten Tod nach ſich ziehet. Und
wenn ſie ſich alle an dir aͤrgerten, und deine reine Gebote beſudel-
ten: ſo will ich mich dennoch nicht an dir aͤrgern. Aber ich kuͤh-
ner Petrus! wie froſtig und neugierig ſtehe ich nicht immer da,
erwaͤrme mich ſo gern an dem Kohlenfeuer der Welt, und ver-
geſſe meine Tugenden und Geluͤbde! So lange dis noch geſchieht,
fuͤhre ich nur den Namen, nicht aber das Weſen der Froͤmmig-
keit. Wie du, mein goͤttlicher Freund! unter allen Umſtaͤnden
derſelbe warſt, ſo muͤſſe auch ich jederzeit der Deinige ſeyn!
Meine jetzige Andacht ſey nicht blos der Name, ſondern wuͤrkliche
inbruͤnſtige Andacht. Dann, Gott! erhoͤreſt du mich gern, und
gewaͤhreſt mich aller meiner Bitten.

Der
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[194[224]/0231] Der 2te April. aus, das waͤre zu unwahrſcheinlich, ſondern fuͤr ehrliebend. Der Niedertraͤchtige hingegen waͤhlet jenen Namen, weil er keinen Glauben finden wuͤrde, wenn er von ſeiner Ehrliebe redete. Bei- de Theile ſehen alſo die zwiſchen ihnen ſtehende Tugend an, naͤhern ſich ihr aber nicht im geringſten; ſondern begnuͤgen ſich, ihren Namen anzunehmen, und die Farbe ihres Gewands, ſo wie es nach ihrer Seite zu ſchattirt iſt, ſo viel moͤglich in ihrer laſter- haften Tracht nachzuahmen. Sie ſind den Schauſpielern gleich, welche einen koͤniglichen Talar anlegen, deſſen Schnitt ſich zu ihrer Rolle am beſten ſchickt. Wie? wenn auch ich mich betroͤge, und meine Tugenden nur ein Theaterkleid waͤren! Das einzige Wort: Lebensart, iſt ein Chamaͤleon, welches alle Farben an ſich nimt. Es hat Zei- ten gegeben, (o! moͤgten ſie doch nicht mehr ſeyn!) wo Mord im Zweikampf, Betruͤgereien im Spiel, ſchamloſe Unzucht und freche Religionsſpoͤtterei, zur Lebensart und folglich zur Tugend eines guten Geſellſchafters gehoͤrten! Die Namen dazu waren recht tartuͤffiſch gewaͤhlet. Es hies: brav, witzig, galant und mit freiem Geiſte leben. Behuͤt mich, mein heiligſter Jeſu! fuͤr eine ſolche tugend- ſcheinende Lebensart, die den gewiſſeſten Tod nach ſich ziehet. Und wenn ſie ſich alle an dir aͤrgerten, und deine reine Gebote beſudel- ten: ſo will ich mich dennoch nicht an dir aͤrgern. Aber ich kuͤh- ner Petrus! wie froſtig und neugierig ſtehe ich nicht immer da, erwaͤrme mich ſo gern an dem Kohlenfeuer der Welt, und ver- geſſe meine Tugenden und Geluͤbde! So lange dis noch geſchieht, fuͤhre ich nur den Namen, nicht aber das Weſen der Froͤmmig- keit. Wie du, mein goͤttlicher Freund! unter allen Umſtaͤnden derſelbe warſt, ſo muͤſſe auch ich jederzeit der Deinige ſeyn! Meine jetzige Andacht ſey nicht blos der Name, ſondern wuͤrkliche inbruͤnſtige Andacht. Dann, Gott! erhoͤreſt du mich gern, und gewaͤhreſt mich aller meiner Bitten. Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 194[224]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/231>, abgerufen am 21.11.2024.