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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 26te März.
Gott! ich kan denken! Jch gewinne,
Weil ich zu einem Geiste ward,
Durch die Empfindung meiner Sinne,
Gedanken tausendfacher Art;
Groß, mannigfaltig ist ihr Heer;
Und doch wird ihrer täglich mehr!


Die Verschiedenheit unsrer Seelenkräfte ist so abän-
dernd, wie jeder Körper von dem andern verschieden ist.
Da aber unser Geist mit dem Leibe den genauesten Zusammenhang
hat, so läßt sich nicht so leicht bestimmen, ob unsre Seelen und
ihre Fähigkeiten an sich selbst verschieden sind, oder ob diese Ver-
schiedenheit nur vom Körper abhange. Das letztere ist uns be-
greiflicher; aber das ist doch auch ein wahrer und würdiger Ge-
danke: daß Gott nun und in Ewigkeit keine Sache zweimal er-
schaffe. Schon unsre große Maler bilden nicht nach einerlei Form.

Unsre Seele empfindet nur durch den Körper. Fehlet uns
ein Sinn, so empfinder sie weniger. Die Sinne sind gleichsam
der Spiegel, in welchem sie sich und andre Dinge sieht. Je hel-
ler und regelmäßiger dieser Spiegel ist, je mehr er durch gute
Erziehung und Unterricht polirt wird: desto besser bilden sich die
Gegenstände darin ab, desto einsichtsvoller wird der Mensch.
Wie im höchsten Grad der Gelbsucht alle Farben gelb scheinen, so
verändern auch alle Mängel der Nerven unsre Aussicht. Hat
der Spiegel (um dieses sehr erläuternde Gleichniß fortzusetzen) ein
unreines, farbiges Glas; hat es Ritzen und Gruben; ist es an-
gelaufen und blind; erhaben oder hohl geschliffen: so kan die Seele

nichts
Tiedens Abendand. I. Th. M


Der 26te Maͤrz.
Gott! ich kan denken! Jch gewinne,
Weil ich zu einem Geiſte ward,
Durch die Empfindung meiner Sinne,
Gedanken tauſendfacher Art;
Groß, mannigfaltig iſt ihr Heer;
Und doch wird ihrer taͤglich mehr!


Die Verſchiedenheit unſrer Seelenkraͤfte iſt ſo abaͤn-
dernd, wie jeder Koͤrper von dem andern verſchieden iſt.
Da aber unſer Geiſt mit dem Leibe den genaueſten Zuſammenhang
hat, ſo laͤßt ſich nicht ſo leicht beſtimmen, ob unſre Seelen und
ihre Faͤhigkeiten an ſich ſelbſt verſchieden ſind, oder ob dieſe Ver-
ſchiedenheit nur vom Koͤrper abhange. Das letztere iſt uns be-
greiflicher; aber das iſt doch auch ein wahrer und wuͤrdiger Ge-
danke: daß Gott nun und in Ewigkeit keine Sache zweimal er-
ſchaffe. Schon unſre große Maler bilden nicht nach einerlei Form.

Unſre Seele empfindet nur durch den Koͤrper. Fehlet uns
ein Sinn, ſo empfinder ſie weniger. Die Sinne ſind gleichſam
der Spiegel, in welchem ſie ſich und andre Dinge ſieht. Je hel-
ler und regelmaͤßiger dieſer Spiegel iſt, je mehr er durch gute
Erziehung und Unterricht polirt wird: deſto beſſer bilden ſich die
Gegenſtaͤnde darin ab, deſto einſichtsvoller wird der Menſch.
Wie im hoͤchſten Grad der Gelbſucht alle Farben gelb ſcheinen, ſo
veraͤndern auch alle Maͤngel der Nerven unſre Ausſicht. Hat
der Spiegel (um dieſes ſehr erlaͤuternde Gleichniß fortzuſetzen) ein
unreines, farbiges Glas; hat es Ritzen und Gruben; iſt es an-
gelaufen und blind; erhaben oder hohl geſchliffen: ſo kan die Seele

nichts
Tiedens Abendand. I. Th. M
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[177[207]/0214] Der 26te Maͤrz. Gott! ich kan denken! Jch gewinne, Weil ich zu einem Geiſte ward, Durch die Empfindung meiner Sinne, Gedanken tauſendfacher Art; Groß, mannigfaltig iſt ihr Heer; Und doch wird ihrer taͤglich mehr! Die Verſchiedenheit unſrer Seelenkraͤfte iſt ſo abaͤn- dernd, wie jeder Koͤrper von dem andern verſchieden iſt. Da aber unſer Geiſt mit dem Leibe den genaueſten Zuſammenhang hat, ſo laͤßt ſich nicht ſo leicht beſtimmen, ob unſre Seelen und ihre Faͤhigkeiten an ſich ſelbſt verſchieden ſind, oder ob dieſe Ver- ſchiedenheit nur vom Koͤrper abhange. Das letztere iſt uns be- greiflicher; aber das iſt doch auch ein wahrer und wuͤrdiger Ge- danke: daß Gott nun und in Ewigkeit keine Sache zweimal er- ſchaffe. Schon unſre große Maler bilden nicht nach einerlei Form. Unſre Seele empfindet nur durch den Koͤrper. Fehlet uns ein Sinn, ſo empfinder ſie weniger. Die Sinne ſind gleichſam der Spiegel, in welchem ſie ſich und andre Dinge ſieht. Je hel- ler und regelmaͤßiger dieſer Spiegel iſt, je mehr er durch gute Erziehung und Unterricht polirt wird: deſto beſſer bilden ſich die Gegenſtaͤnde darin ab, deſto einſichtsvoller wird der Menſch. Wie im hoͤchſten Grad der Gelbſucht alle Farben gelb ſcheinen, ſo veraͤndern auch alle Maͤngel der Nerven unſre Ausſicht. Hat der Spiegel (um dieſes ſehr erlaͤuternde Gleichniß fortzuſetzen) ein unreines, farbiges Glas; hat es Ritzen und Gruben; iſt es an- gelaufen und blind; erhaben oder hohl geſchliffen: ſo kan die Seele nichts Tiedens Abendand. I. Th. M

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 177[207]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/214>, abgerufen am 21.11.2024.