Gott! ich kan denken! Jch gewinne, Weil ich zu einem Geiste ward, Durch die Empfindung meiner Sinne, Gedanken tausendfacher Art; Groß, mannigfaltig ist ihr Heer; Und doch wird ihrer täglich mehr!
Die Verschiedenheit unsrer Seelenkräfte ist so abän- dernd, wie jeder Körper von dem andern verschieden ist. Da aber unser Geist mit dem Leibe den genauesten Zusammenhang hat, so läßt sich nicht so leicht bestimmen, ob unsre Seelen und ihre Fähigkeiten an sich selbst verschieden sind, oder ob diese Ver- schiedenheit nur vom Körper abhange. Das letztere ist uns be- greiflicher; aber das ist doch auch ein wahrer und würdiger Ge- danke: daß Gott nun und in Ewigkeit keine Sache zweimal er- schaffe. Schon unsre große Maler bilden nicht nach einerlei Form.
Unsre Seele empfindet nur durch den Körper. Fehlet uns ein Sinn, so empfinder sie weniger. Die Sinne sind gleichsam der Spiegel, in welchem sie sich und andre Dinge sieht. Je hel- ler und regelmäßiger dieser Spiegel ist, je mehr er durch gute Erziehung und Unterricht polirt wird: desto besser bilden sich die Gegenstände darin ab, desto einsichtsvoller wird der Mensch. Wie im höchsten Grad der Gelbsucht alle Farben gelb scheinen, so verändern auch alle Mängel der Nerven unsre Aussicht. Hat der Spiegel (um dieses sehr erläuternde Gleichniß fortzusetzen) ein unreines, farbiges Glas; hat es Ritzen und Gruben; ist es an- gelaufen und blind; erhaben oder hohl geschliffen: so kan die Seele
nichts
Tiedens Abendand. I. Th. M
Der 26te Maͤrz.
Gott! ich kan denken! Jch gewinne, Weil ich zu einem Geiſte ward, Durch die Empfindung meiner Sinne, Gedanken tauſendfacher Art; Groß, mannigfaltig iſt ihr Heer; Und doch wird ihrer taͤglich mehr!
Die Verſchiedenheit unſrer Seelenkraͤfte iſt ſo abaͤn- dernd, wie jeder Koͤrper von dem andern verſchieden iſt. Da aber unſer Geiſt mit dem Leibe den genaueſten Zuſammenhang hat, ſo laͤßt ſich nicht ſo leicht beſtimmen, ob unſre Seelen und ihre Faͤhigkeiten an ſich ſelbſt verſchieden ſind, oder ob dieſe Ver- ſchiedenheit nur vom Koͤrper abhange. Das letztere iſt uns be- greiflicher; aber das iſt doch auch ein wahrer und wuͤrdiger Ge- danke: daß Gott nun und in Ewigkeit keine Sache zweimal er- ſchaffe. Schon unſre große Maler bilden nicht nach einerlei Form.
Unſre Seele empfindet nur durch den Koͤrper. Fehlet uns ein Sinn, ſo empfinder ſie weniger. Die Sinne ſind gleichſam der Spiegel, in welchem ſie ſich und andre Dinge ſieht. Je hel- ler und regelmaͤßiger dieſer Spiegel iſt, je mehr er durch gute Erziehung und Unterricht polirt wird: deſto beſſer bilden ſich die Gegenſtaͤnde darin ab, deſto einſichtsvoller wird der Menſch. Wie im hoͤchſten Grad der Gelbſucht alle Farben gelb ſcheinen, ſo veraͤndern auch alle Maͤngel der Nerven unſre Ausſicht. Hat der Spiegel (um dieſes ſehr erlaͤuternde Gleichniß fortzuſetzen) ein unreines, farbiges Glas; hat es Ritzen und Gruben; iſt es an- gelaufen und blind; erhaben oder hohl geſchliffen: ſo kan die Seele
nichts
Tiedens Abendand. I. Th. M
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0214"n="177[207]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Der 26<hirendition="#sup">te</hi> Maͤrz.</hi></head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">G</hi>ott! ich kan denken! Jch gewinne,</l><lb/><l>Weil ich zu einem Geiſte ward,</l><lb/><l>Durch die Empfindung meiner Sinne,</l><lb/><l>Gedanken tauſendfacher Art;</l><lb/><l>Groß, mannigfaltig iſt ihr Heer;</l><lb/><l>Und doch wird ihrer taͤglich mehr!</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">D</hi><hirendition="#fr">ie Verſchiedenheit unſrer Seelenkraͤfte</hi> iſt ſo abaͤn-<lb/>
dernd, wie jeder Koͤrper von dem andern verſchieden iſt.<lb/>
Da aber unſer Geiſt mit dem Leibe den genaueſten Zuſammenhang<lb/>
hat, ſo laͤßt ſich nicht ſo leicht beſtimmen, ob unſre Seelen und<lb/>
ihre Faͤhigkeiten an ſich ſelbſt verſchieden ſind, oder ob dieſe Ver-<lb/>ſchiedenheit nur vom Koͤrper abhange. Das letztere iſt uns be-<lb/>
greiflicher; aber das iſt doch auch ein wahrer und wuͤrdiger Ge-<lb/>
danke: daß Gott nun und in Ewigkeit keine Sache zweimal er-<lb/>ſchaffe. Schon unſre große Maler bilden nicht nach einerlei Form.</p><lb/><p>Unſre Seele empfindet nur durch den Koͤrper. Fehlet uns<lb/>
ein Sinn, ſo empfinder ſie weniger. Die Sinne ſind gleichſam<lb/>
der Spiegel, in welchem ſie ſich und andre Dinge ſieht. Je hel-<lb/>
ler und regelmaͤßiger dieſer Spiegel iſt, je mehr er durch gute<lb/>
Erziehung und Unterricht polirt wird: deſto beſſer bilden ſich die<lb/>
Gegenſtaͤnde darin ab, deſto einſichtsvoller wird der Menſch.<lb/>
Wie im hoͤchſten Grad der Gelbſucht alle Farben gelb ſcheinen, ſo<lb/>
veraͤndern auch alle Maͤngel der Nerven unſre Ausſicht. Hat<lb/>
der Spiegel (um dieſes ſehr erlaͤuternde Gleichniß fortzuſetzen) ein<lb/>
unreines, farbiges Glas; hat es Ritzen und Gruben; iſt es an-<lb/>
gelaufen und blind; erhaben oder hohl geſchliffen: ſo kan die Seele<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Tiedens Abendand. <hirendition="#aq">I.</hi> Th. M</fw><fwplace="bottom"type="catch">nichts</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[177[207]/0214]
Der 26te Maͤrz.
Gott! ich kan denken! Jch gewinne,
Weil ich zu einem Geiſte ward,
Durch die Empfindung meiner Sinne,
Gedanken tauſendfacher Art;
Groß, mannigfaltig iſt ihr Heer;
Und doch wird ihrer taͤglich mehr!
Die Verſchiedenheit unſrer Seelenkraͤfte iſt ſo abaͤn-
dernd, wie jeder Koͤrper von dem andern verſchieden iſt.
Da aber unſer Geiſt mit dem Leibe den genaueſten Zuſammenhang
hat, ſo laͤßt ſich nicht ſo leicht beſtimmen, ob unſre Seelen und
ihre Faͤhigkeiten an ſich ſelbſt verſchieden ſind, oder ob dieſe Ver-
ſchiedenheit nur vom Koͤrper abhange. Das letztere iſt uns be-
greiflicher; aber das iſt doch auch ein wahrer und wuͤrdiger Ge-
danke: daß Gott nun und in Ewigkeit keine Sache zweimal er-
ſchaffe. Schon unſre große Maler bilden nicht nach einerlei Form.
Unſre Seele empfindet nur durch den Koͤrper. Fehlet uns
ein Sinn, ſo empfinder ſie weniger. Die Sinne ſind gleichſam
der Spiegel, in welchem ſie ſich und andre Dinge ſieht. Je hel-
ler und regelmaͤßiger dieſer Spiegel iſt, je mehr er durch gute
Erziehung und Unterricht polirt wird: deſto beſſer bilden ſich die
Gegenſtaͤnde darin ab, deſto einſichtsvoller wird der Menſch.
Wie im hoͤchſten Grad der Gelbſucht alle Farben gelb ſcheinen, ſo
veraͤndern auch alle Maͤngel der Nerven unſre Ausſicht. Hat
der Spiegel (um dieſes ſehr erlaͤuternde Gleichniß fortzuſetzen) ein
unreines, farbiges Glas; hat es Ritzen und Gruben; iſt es an-
gelaufen und blind; erhaben oder hohl geſchliffen: ſo kan die Seele
nichts
Tiedens Abendand. I. Th. M
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 177[207]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/214>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.