Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 17te März.
Sprich nicht: Gott kennt mein Herz,
Ich hab es ihm verheissen,
Mich noch dereinst, mich bald
Vom Laster loszureissen;
Jetzt ist dis Werk zu schwer:
Doch, diese Schwierigkeit,
Die heute dich erschreckt,
Wächst sie nicht durch die Zeit?


Der Mensch ist meistens ärmer, als er es denkt.
Zwar im Geistlichen dünkt er sich gemeiniglich so reich, als
er sich im Zeitlichen arm zu seyn dünket. Er glaubet fromm ge-
nug zu seyn, wenn er nur kein öffentlicher Dieb, Mörder, oder
Bösewicht ist. Seinen Feinden den Tod, und die Habe eines
andern sich zu wünschen oder sie durch Betrug zu besitzen: das
nennet er weder gemordet noch gestohlen. Ein Gebet, von wel-
chem das Herz nichts weiß, und bei welchem man einschlummert,
soll eine gottesdienstliche Handlung seyn. Verläumdungen sind
nöthige Unterhaltungen der Gesellschaft! "Wer kan immer spie-
len! Wer immer von gleichgültigen Dingen reden? Und über-
haupt kan und will Gott es auch so genau nicht nehmen; und end-
lich bin ich auch noch lange nicht der größte Verläumder, und
vollkommen ist kein Mensch!"

Freund! wie lange wirst du noch diese Sprache führen?
Bis du alt bist? Aber der Würgengel gehet dir ja mit gezucktem
Schwerdte zur Seite! Das Grab ist leer und die Erde lechzet,
die deine Vermoderung trinken soll: morgen vieleicht wirst du sie
befriedigen, und den leeren Raum des Grabes füllen! -- Aber

du


Der 17te Maͤrz.
Sprich nicht: Gott kennt mein Herz,
Ich hab es ihm verheiſſen,
Mich noch dereinſt, mich bald
Vom Laſter loszureiſſen;
Jetzt iſt dis Werk zu ſchwer:
Doch, dieſe Schwierigkeit,
Die heute dich erſchreckt,
Waͤchſt ſie nicht durch die Zeit?


Der Menſch iſt meiſtens aͤrmer, als er es denkt.
Zwar im Geiſtlichen duͤnkt er ſich gemeiniglich ſo reich, als
er ſich im Zeitlichen arm zu ſeyn duͤnket. Er glaubet fromm ge-
nug zu ſeyn, wenn er nur kein oͤffentlicher Dieb, Moͤrder, oder
Boͤſewicht iſt. Seinen Feinden den Tod, und die Habe eines
andern ſich zu wuͤnſchen oder ſie durch Betrug zu beſitzen: das
nennet er weder gemordet noch geſtohlen. Ein Gebet, von wel-
chem das Herz nichts weiß, und bei welchem man einſchlummert,
ſoll eine gottesdienſtliche Handlung ſeyn. Verlaͤumdungen ſind
noͤthige Unterhaltungen der Geſellſchaft! „Wer kan immer ſpie-
len! Wer immer von gleichguͤltigen Dingen reden? Und uͤber-
haupt kan und will Gott es auch ſo genau nicht nehmen; und end-
lich bin ich auch noch lange nicht der groͤßte Verlaͤumder, und
vollkommen iſt kein Menſch!„

Freund! wie lange wirſt du noch dieſe Sprache fuͤhren?
Bis du alt biſt? Aber der Wuͤrgengel gehet dir ja mit gezucktem
Schwerdte zur Seite! Das Grab iſt leer und die Erde lechzet,
die deine Vermoderung trinken ſoll: morgen vieleicht wirſt du ſie
befriedigen, und den leeren Raum des Grabes fuͤllen! — Aber

du
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0196" n="159[189]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head>Der 17<hi rendition="#sup">te</hi> Ma&#x0364;rz.</head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l>Sprich nicht: Gott kennt mein Herz,</l><lb/>
              <l>Ich hab es ihm verhei&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Mich noch derein&#x017F;t, mich bald</l><lb/>
              <l>Vom La&#x017F;ter loszurei&#x017F;&#x017F;en;</l><lb/>
              <l>Jetzt i&#x017F;t dis Werk zu &#x017F;chwer:</l><lb/>
              <l>Doch, die&#x017F;e Schwierigkeit,</l><lb/>
              <l>Die heute dich er&#x017F;chreckt,</l><lb/>
              <l>Wa&#x0364;ch&#x017F;t &#x017F;ie nicht durch die Zeit?</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>er <hi rendition="#fr">Men&#x017F;ch i&#x017F;t mei&#x017F;tens a&#x0364;rmer, als er es denkt.</hi><lb/>
Zwar im Gei&#x017F;tlichen du&#x0364;nkt er &#x017F;ich gemeiniglich &#x017F;o reich, als<lb/>
er &#x017F;ich im Zeitlichen arm zu &#x017F;eyn du&#x0364;nket. Er glaubet fromm ge-<lb/>
nug zu &#x017F;eyn, wenn er nur kein o&#x0364;ffentlicher Dieb, Mo&#x0364;rder, oder<lb/>
Bo&#x0364;&#x017F;ewicht i&#x017F;t. Seinen Feinden den Tod, und die Habe eines<lb/>
andern &#x017F;ich zu wu&#x0364;n&#x017F;chen oder &#x017F;ie durch Betrug zu be&#x017F;itzen: das<lb/>
nennet er weder gemordet noch ge&#x017F;tohlen. Ein Gebet, von wel-<lb/>
chem das Herz nichts weiß, und bei welchem man ein&#x017F;chlummert,<lb/>
&#x017F;oll eine gottesdien&#x017F;tliche Handlung &#x017F;eyn. Verla&#x0364;umdungen &#x017F;ind<lb/>
no&#x0364;thige Unterhaltungen der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft! &#x201E;Wer kan immer &#x017F;pie-<lb/>
len! Wer immer von gleichgu&#x0364;ltigen Dingen reden? Und u&#x0364;ber-<lb/>
haupt kan und will Gott es auch &#x017F;o genau nicht nehmen; und end-<lb/>
lich bin ich auch noch lange nicht der gro&#x0364;ßte Verla&#x0364;umder, und<lb/>
vollkommen i&#x017F;t kein Men&#x017F;ch!&#x201E;</p><lb/>
            <p>Freund! wie lange wir&#x017F;t du noch die&#x017F;e Sprache fu&#x0364;hren?<lb/>
Bis du alt bi&#x017F;t? Aber der Wu&#x0364;rgengel gehet dir ja mit gezucktem<lb/>
Schwerdte zur Seite! Das Grab i&#x017F;t leer und die Erde lechzet,<lb/>
die deine Vermoderung trinken &#x017F;oll: morgen vieleicht wir&#x017F;t du &#x017F;ie<lb/>
befriedigen, und den leeren Raum des Grabes fu&#x0364;llen! &#x2014; Aber<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">du</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159[189]/0196] Der 17te Maͤrz. Sprich nicht: Gott kennt mein Herz, Ich hab es ihm verheiſſen, Mich noch dereinſt, mich bald Vom Laſter loszureiſſen; Jetzt iſt dis Werk zu ſchwer: Doch, dieſe Schwierigkeit, Die heute dich erſchreckt, Waͤchſt ſie nicht durch die Zeit? Der Menſch iſt meiſtens aͤrmer, als er es denkt. Zwar im Geiſtlichen duͤnkt er ſich gemeiniglich ſo reich, als er ſich im Zeitlichen arm zu ſeyn duͤnket. Er glaubet fromm ge- nug zu ſeyn, wenn er nur kein oͤffentlicher Dieb, Moͤrder, oder Boͤſewicht iſt. Seinen Feinden den Tod, und die Habe eines andern ſich zu wuͤnſchen oder ſie durch Betrug zu beſitzen: das nennet er weder gemordet noch geſtohlen. Ein Gebet, von wel- chem das Herz nichts weiß, und bei welchem man einſchlummert, ſoll eine gottesdienſtliche Handlung ſeyn. Verlaͤumdungen ſind noͤthige Unterhaltungen der Geſellſchaft! „Wer kan immer ſpie- len! Wer immer von gleichguͤltigen Dingen reden? Und uͤber- haupt kan und will Gott es auch ſo genau nicht nehmen; und end- lich bin ich auch noch lange nicht der groͤßte Verlaͤumder, und vollkommen iſt kein Menſch!„ Freund! wie lange wirſt du noch dieſe Sprache fuͤhren? Bis du alt biſt? Aber der Wuͤrgengel gehet dir ja mit gezucktem Schwerdte zur Seite! Das Grab iſt leer und die Erde lechzet, die deine Vermoderung trinken ſoll: morgen vieleicht wirſt du ſie befriedigen, und den leeren Raum des Grabes fuͤllen! — Aber du

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/196
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 159[189]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/196>, abgerufen am 03.12.2024.