Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 2te März.
Der Mensch, um Schatten zu erhaschen,
Verlieret oft ein würklich Gut.


Ich will mich anjetzt mit Gott unterhalten: aber warum will
ich es? Bin ich völlig überzeugt, daß meine Abendandacht
eine unverbrüchliche Pflicht sey, oder geschieht es blos aus Ge-
wohnheit, und um den christlichen Wohlstand zu beobachten, daß ich
jetzt ein geistliches Buch ergreife? Ach! der Gedanke ist sehr nie-
derschlagend: daß die meiste Menschen viele Thorheiten beim
Gebet
begehen! Die meisten halten sich bei Nebendingen auf,
und beten nur mit dem Körper. Und eben deswegen sind ihnen
die Stellung des Leibes, die Geberden, ein gewisser feierlicher
Ton, Ort und Zeit beim Beten von der größten Wichtigkeit;
ohnerachtet alle diese Dinge nur Hülsen sind. Jesus befahl,
allenthalben, zu aller Zeit, hauptsächlich aber im Geist und in
der Wahrheit zu beten.

Der gemeine Mann glaubt ein wichtiges Stück des Gottes-
dienstes zu verrichten, wenn er beim Schlage der sogenanten Bet-
glocke, das Haupt entblößt, die Hände faltet, und geschwinde
ein Vater unser daher lallt. Er würde fich's nicht vergeben, wenn
er bei Anhörung des Namens Jesu sein Haupt bedeckt behalten,
oder es nicht bücken solte. Bei Nennung des heiligen Geistes
ist diese Verbeugung weniger tief, und der ersten Person in der
Gottheit wird sie gar nicht geleistet. Welche unanständige Be-
griffe mag nicht ein solcher Christ haben! Und wie sehr buchstäb-
lich und verkehrt heisset das den Spruch erklären: daß in dem Na-
men Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und
auf Erden und unter der Erde sind. Engel, Menschen und Teufel
sollen die Oberherrschaft Jesu, entweder mit Freuden, oder mit
Zittern erkennen: das will ja mehr sagen, als mit dem Kopfe nicken?

Jedoch,
Tiedens Abendand. I. Th. J


Der 2te Maͤrz.
Der Menſch, um Schatten zu erhaſchen,
Verlieret oft ein wuͤrklich Gut.


Ich will mich anjetzt mit Gott unterhalten: aber warum will
ich es? Bin ich voͤllig uͤberzeugt, daß meine Abendandacht
eine unverbruͤchliche Pflicht ſey, oder geſchieht es blos aus Ge-
wohnheit, und um den chriſtlichen Wohlſtand zu beobachten, daß ich
jetzt ein geiſtliches Buch ergreife? Ach! der Gedanke iſt ſehr nie-
derſchlagend: daß die meiſte Menſchen viele Thorheiten beim
Gebet
begehen! Die meiſten halten ſich bei Nebendingen auf,
und beten nur mit dem Koͤrper. Und eben deswegen ſind ihnen
die Stellung des Leibes, die Geberden, ein gewiſſer feierlicher
Ton, Ort und Zeit beim Beten von der groͤßten Wichtigkeit;
ohnerachtet alle dieſe Dinge nur Huͤlſen ſind. Jeſus befahl,
allenthalben, zu aller Zeit, hauptſaͤchlich aber im Geiſt und in
der Wahrheit zu beten.

Der gemeine Mann glaubt ein wichtiges Stuͤck des Gottes-
dienſtes zu verrichten, wenn er beim Schlage der ſogenanten Bet-
glocke, das Haupt entbloͤßt, die Haͤnde faltet, und geſchwinde
ein Vater unſer daher lallt. Er wuͤrde fich’s nicht vergeben, wenn
er bei Anhoͤrung des Namens Jeſu ſein Haupt bedeckt behalten,
oder es nicht buͤcken ſolte. Bei Nennung des heiligen Geiſtes
iſt dieſe Verbeugung weniger tief, und der erſten Perſon in der
Gottheit wird ſie gar nicht geleiſtet. Welche unanſtaͤndige Be-
griffe mag nicht ein ſolcher Chriſt haben! Und wie ſehr buchſtaͤb-
lich und verkehrt heiſſet das den Spruch erklaͤren: daß in dem Na-
men Jeſu ſich beugen ſollen aller derer Knie, die im Himmel und
auf Erden und unter der Erde ſind. Engel, Menſchen und Teufel
ſollen die Oberherrſchaft Jeſu, entweder mit Freuden, oder mit
Zittern erkennen: das will ja mehr ſagen, als mit dem Kopfe nicken?

Jedoch,
Tiedens Abendand. I. Th. J
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0166" n="129[159]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head>Der 2<hi rendition="#sup">te</hi> Ma&#x0364;rz.</head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l>Der Men&#x017F;ch, um Schatten zu erha&#x017F;chen,</l><lb/>
              <l>Verlieret oft ein wu&#x0364;rklich Gut.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">I</hi>ch will mich anjetzt mit Gott unterhalten: aber warum will<lb/>
ich es? Bin ich vo&#x0364;llig u&#x0364;berzeugt, daß meine Abendandacht<lb/>
eine unverbru&#x0364;chliche Pflicht &#x017F;ey, oder ge&#x017F;chieht es blos aus Ge-<lb/>
wohnheit, und um den chri&#x017F;tlichen Wohl&#x017F;tand zu beobachten, daß ich<lb/>
jetzt ein gei&#x017F;tliches Buch ergreife? Ach! der Gedanke i&#x017F;t &#x017F;ehr nie-<lb/>
der&#x017F;chlagend: daß die mei&#x017F;te Men&#x017F;chen viele <hi rendition="#fr">Thorheiten beim<lb/>
Gebet</hi> begehen! Die mei&#x017F;ten halten &#x017F;ich bei Nebendingen auf,<lb/>
und beten nur mit dem Ko&#x0364;rper. Und eben deswegen &#x017F;ind ihnen<lb/>
die Stellung des Leibes, die Geberden, ein gewi&#x017F;&#x017F;er feierlicher<lb/>
Ton, Ort und Zeit beim Beten von der gro&#x0364;ßten Wichtigkeit;<lb/>
ohnerachtet alle die&#x017F;e Dinge nur Hu&#x0364;l&#x017F;en &#x017F;ind. Je&#x017F;us befahl,<lb/>
allenthalben, zu aller Zeit, haupt&#x017F;a&#x0364;chlich aber im Gei&#x017F;t und in<lb/>
der Wahrheit zu beten.</p><lb/>
            <p>Der gemeine Mann glaubt ein wichtiges Stu&#x0364;ck des Gottes-<lb/>
dien&#x017F;tes zu verrichten, wenn er beim Schlage der &#x017F;ogenanten Bet-<lb/>
glocke, das Haupt entblo&#x0364;ßt, die Ha&#x0364;nde faltet, und ge&#x017F;chwinde<lb/>
ein Vater un&#x017F;er daher lallt. Er wu&#x0364;rde fich&#x2019;s nicht vergeben, wenn<lb/>
er bei Anho&#x0364;rung des Namens Je&#x017F;u &#x017F;ein Haupt bedeckt behalten,<lb/>
oder es nicht bu&#x0364;cken &#x017F;olte. Bei Nennung des heiligen Gei&#x017F;tes<lb/>
i&#x017F;t die&#x017F;e Verbeugung weniger tief, und der er&#x017F;ten Per&#x017F;on in der<lb/>
Gottheit wird &#x017F;ie gar nicht gelei&#x017F;tet. Welche unan&#x017F;ta&#x0364;ndige Be-<lb/>
griffe mag nicht ein &#x017F;olcher Chri&#x017F;t haben! Und wie &#x017F;ehr buch&#x017F;ta&#x0364;b-<lb/>
lich und verkehrt hei&#x017F;&#x017F;et das den Spruch erkla&#x0364;ren: daß in dem Na-<lb/>
men Je&#x017F;u &#x017F;ich beugen &#x017F;ollen aller derer Knie, die im Himmel und<lb/>
auf Erden und unter der Erde &#x017F;ind. Engel, Men&#x017F;chen und Teufel<lb/>
&#x017F;ollen die Oberherr&#x017F;chaft Je&#x017F;u, entweder mit Freuden, oder mit<lb/>
Zittern erkennen: das will ja mehr &#x017F;agen, als mit dem Kopfe nicken?</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">Tiedens Abendand. <hi rendition="#aq">I.</hi> Th. J</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">Jedoch,</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129[159]/0166] Der 2te Maͤrz. Der Menſch, um Schatten zu erhaſchen, Verlieret oft ein wuͤrklich Gut. Ich will mich anjetzt mit Gott unterhalten: aber warum will ich es? Bin ich voͤllig uͤberzeugt, daß meine Abendandacht eine unverbruͤchliche Pflicht ſey, oder geſchieht es blos aus Ge- wohnheit, und um den chriſtlichen Wohlſtand zu beobachten, daß ich jetzt ein geiſtliches Buch ergreife? Ach! der Gedanke iſt ſehr nie- derſchlagend: daß die meiſte Menſchen viele Thorheiten beim Gebet begehen! Die meiſten halten ſich bei Nebendingen auf, und beten nur mit dem Koͤrper. Und eben deswegen ſind ihnen die Stellung des Leibes, die Geberden, ein gewiſſer feierlicher Ton, Ort und Zeit beim Beten von der groͤßten Wichtigkeit; ohnerachtet alle dieſe Dinge nur Huͤlſen ſind. Jeſus befahl, allenthalben, zu aller Zeit, hauptſaͤchlich aber im Geiſt und in der Wahrheit zu beten. Der gemeine Mann glaubt ein wichtiges Stuͤck des Gottes- dienſtes zu verrichten, wenn er beim Schlage der ſogenanten Bet- glocke, das Haupt entbloͤßt, die Haͤnde faltet, und geſchwinde ein Vater unſer daher lallt. Er wuͤrde fich’s nicht vergeben, wenn er bei Anhoͤrung des Namens Jeſu ſein Haupt bedeckt behalten, oder es nicht buͤcken ſolte. Bei Nennung des heiligen Geiſtes iſt dieſe Verbeugung weniger tief, und der erſten Perſon in der Gottheit wird ſie gar nicht geleiſtet. Welche unanſtaͤndige Be- griffe mag nicht ein ſolcher Chriſt haben! Und wie ſehr buchſtaͤb- lich und verkehrt heiſſet das den Spruch erklaͤren: daß in dem Na- men Jeſu ſich beugen ſollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde ſind. Engel, Menſchen und Teufel ſollen die Oberherrſchaft Jeſu, entweder mit Freuden, oder mit Zittern erkennen: das will ja mehr ſagen, als mit dem Kopfe nicken? Jedoch, Tiedens Abendand. I. Th. J

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/166
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 129[159]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/166>, abgerufen am 03.07.2024.