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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 1te März.
ziehen. Der klappernde Storch, die schnatternde wilde Ente,
insonderheit aber die wirbelnde Lerche werden mir gleichsam zuru-
fen: "Mensch! lebest du auch noch, und bist du, wie wir, bis
&q;hieher wunderbar erhalten worden? So komm denn, vereinige
&q;deinen edlern Gesang mit unsern unförmlichen Tönen, und dank
&q;dem gütgen Erhalter mit uns!"

Richten diese erste Boten des Frühlings nichts aus: o! so
bin ich in dem folgenden Monate schon harthöriger; denn der Reiz
der Neuheit verliert sich bald. Wer den freudigen Gesang der
steigenden Lerche nicht fühlt, schläft leicht bey Nachtigallschlägen
ein. Nein! ihr meine Halbbrüder! es ist billig, daß ich euch
höre. Ihr habt jetzt wol schon die weite Reise zu mir angetreten,
und es wäre unverantwortlich, wenn ich euch nach so langer Ab-
wesenheit kaltsinnig empfangen wolte. Bald ziehet der Lenz den
Vorhang auf, wie viel werde ich nicht sehen und hören, und in
allem -- Gott!

Dieser Monat ist also zur Erbauung fast am schicklichsten,
wenigstens am reizendsten: aber eben deswegen ist in ihm ein schläf-
riges Christenthum am unverschämtesten. Denke ich mir vollends
die Leidenszeit meines Erlösers, welche ein strenges Fasten von
meinen üppigen Sinnen verlangt, so wünsche ich herzlich, daß ich
diesen Monat ohne Vorwürfe beschließen könte. Jedoch was
Wünsche? Ein felsenfester Entschluß, jeden Tag so viel Gutes zu
denken und zu thun, als es mir unter Gottes Beistand möglich
seyn wird: das ist an diesem Abend meine Pflicht. Wo die ganze
Natur um mich her aus dem Winterschlaf erwacht, da will ich
nicht schlummern, sondern ihre Winke und Lehren verstehn. Die
Natur erwacht und verlanget mein Lächeln: Jesus leidet und fo-
dert meine Thränen: was soll ich thun? Ich will beides verbin-
den. Ueber meine Sünden, welche meinen Heiland kreuzigen
halfen, will ich weinen. Alsdann aber habe ich auch ein Recht,
mich über die Schönheiten der Natur zu freuen; denn dazu starb
mein Erlöser, daß ich mich freuen solte.

Der

Der 1te Maͤrz.
ziehen. Der klappernde Storch, die ſchnatternde wilde Ente,
inſonderheit aber die wirbelnde Lerche werden mir gleichſam zuru-
fen: „Menſch! lebeſt du auch noch, und biſt du, wie wir, bis
&q;hieher wunderbar erhalten worden? So komm denn, vereinige
&q;deinen edlern Geſang mit unſern unfoͤrmlichen Toͤnen, und dank
&q;dem guͤtgen Erhalter mit uns!„

Richten dieſe erſte Boten des Fruͤhlings nichts aus: o! ſo
bin ich in dem folgenden Monate ſchon harthoͤriger; denn der Reiz
der Neuheit verliert ſich bald. Wer den freudigen Geſang der
ſteigenden Lerche nicht fuͤhlt, ſchlaͤft leicht bey Nachtigallſchlaͤgen
ein. Nein! ihr meine Halbbruͤder! es iſt billig, daß ich euch
hoͤre. Ihr habt jetzt wol ſchon die weite Reiſe zu mir angetreten,
und es waͤre unverantwortlich, wenn ich euch nach ſo langer Ab-
weſenheit kaltſinnig empfangen wolte. Bald ziehet der Lenz den
Vorhang auf, wie viel werde ich nicht ſehen und hoͤren, und in
allem — Gott!

Dieſer Monat iſt alſo zur Erbauung faſt am ſchicklichſten,
wenigſtens am reizendſten: aber eben deswegen iſt in ihm ein ſchlaͤf-
riges Chriſtenthum am unverſchaͤmteſten. Denke ich mir vollends
die Leidenszeit meines Erloͤſers, welche ein ſtrenges Faſten von
meinen uͤppigen Sinnen verlangt, ſo wuͤnſche ich herzlich, daß ich
dieſen Monat ohne Vorwuͤrfe beſchließen koͤnte. Jedoch was
Wuͤnſche? Ein felſenfeſter Entſchluß, jeden Tag ſo viel Gutes zu
denken und zu thun, als es mir unter Gottes Beiſtand moͤglich
ſeyn wird: das iſt an dieſem Abend meine Pflicht. Wo die ganze
Natur um mich her aus dem Winterſchlaf erwacht, da will ich
nicht ſchlummern, ſondern ihre Winke und Lehren verſtehn. Die
Natur erwacht und verlanget mein Laͤcheln: Jeſus leidet und fo-
dert meine Thraͤnen: was ſoll ich thun? Ich will beides verbin-
den. Ueber meine Suͤnden, welche meinen Heiland kreuzigen
halfen, will ich weinen. Alsdann aber habe ich auch ein Recht,
mich uͤber die Schoͤnheiten der Natur zu freuen; denn dazu ſtarb
mein Erloͤſer, daß ich mich freuen ſolte.

Der
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[128[158]/0165] Der 1te Maͤrz. ziehen. Der klappernde Storch, die ſchnatternde wilde Ente, inſonderheit aber die wirbelnde Lerche werden mir gleichſam zuru- fen: „Menſch! lebeſt du auch noch, und biſt du, wie wir, bis &q;hieher wunderbar erhalten worden? So komm denn, vereinige &q;deinen edlern Geſang mit unſern unfoͤrmlichen Toͤnen, und dank &q;dem guͤtgen Erhalter mit uns!„ Richten dieſe erſte Boten des Fruͤhlings nichts aus: o! ſo bin ich in dem folgenden Monate ſchon harthoͤriger; denn der Reiz der Neuheit verliert ſich bald. Wer den freudigen Geſang der ſteigenden Lerche nicht fuͤhlt, ſchlaͤft leicht bey Nachtigallſchlaͤgen ein. Nein! ihr meine Halbbruͤder! es iſt billig, daß ich euch hoͤre. Ihr habt jetzt wol ſchon die weite Reiſe zu mir angetreten, und es waͤre unverantwortlich, wenn ich euch nach ſo langer Ab- weſenheit kaltſinnig empfangen wolte. Bald ziehet der Lenz den Vorhang auf, wie viel werde ich nicht ſehen und hoͤren, und in allem — Gott! Dieſer Monat iſt alſo zur Erbauung faſt am ſchicklichſten, wenigſtens am reizendſten: aber eben deswegen iſt in ihm ein ſchlaͤf- riges Chriſtenthum am unverſchaͤmteſten. Denke ich mir vollends die Leidenszeit meines Erloͤſers, welche ein ſtrenges Faſten von meinen uͤppigen Sinnen verlangt, ſo wuͤnſche ich herzlich, daß ich dieſen Monat ohne Vorwuͤrfe beſchließen koͤnte. Jedoch was Wuͤnſche? Ein felſenfeſter Entſchluß, jeden Tag ſo viel Gutes zu denken und zu thun, als es mir unter Gottes Beiſtand moͤglich ſeyn wird: das iſt an dieſem Abend meine Pflicht. Wo die ganze Natur um mich her aus dem Winterſchlaf erwacht, da will ich nicht ſchlummern, ſondern ihre Winke und Lehren verſtehn. Die Natur erwacht und verlanget mein Laͤcheln: Jeſus leidet und fo- dert meine Thraͤnen: was ſoll ich thun? Ich will beides verbin- den. Ueber meine Suͤnden, welche meinen Heiland kreuzigen halfen, will ich weinen. Alsdann aber habe ich auch ein Recht, mich uͤber die Schoͤnheiten der Natur zu freuen; denn dazu ſtarb mein Erloͤſer, daß ich mich freuen ſolte. Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 128[158]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/165>, abgerufen am 21.11.2024.