Menschen getreu und lebhaft in seiner Phanta¬ sie aufbewahren und sie dann von neuem vor sich hinstellen konnte, so war er in manchen Augenblicken ungewiß, ob alles was ihn um¬ gab, nicht auch vielleicht eine Schöpfung seiner Einbildung sey.
Er hielt seine Schreibtafel in seiner Hand, und vor ihm im Grase lag die frem¬ de gefundene. Er hatte den Umriß eines Kopfes entworfen, den er eben wieder aus¬ strich, weil ihm keine Ähnlichkeit darinn zu liegen schien; es sollte das Gesicht des frem¬ den Mädchens vorstellen, die seine Phanta¬ sie unaufhörlich beschäftigte. Er rief sich dabei jeden Umstand, jedes Wort das sie gesprochen hatte, in die Gedanken zurück, er sah alle die lieblichen Minen, den sü߬ lächenden Mund, die unaussprechliche Gra¬ zie jeder Bewegung, alles dies zog wieder durch sein Gedächtniß, und er fühlte sich
Menſchen getreu und lebhaft in ſeiner Phanta¬ ſie aufbewahren und ſie dann von neuem vor ſich hinſtellen konnte, ſo war er in manchen Augenblicken ungewiß, ob alles was ihn um¬ gab, nicht auch vielleicht eine Schöpfung ſeiner Einbildung ſey.
Er hielt ſeine Schreibtafel in ſeiner Hand, und vor ihm im Graſe lag die frem¬ de gefundene. Er hatte den Umriß eines Kopfes entworfen, den er eben wieder aus¬ ſtrich, weil ihm keine Ähnlichkeit darinn zu liegen ſchien; es ſollte das Geſicht des frem¬ den Mädchens vorſtellen, die ſeine Phanta¬ ſie unaufhörlich beſchäftigte. Er rief ſich dabei jeden Umſtand, jedes Wort das ſie geſprochen hatte, in die Gedanken zurück, er ſah alle die lieblichen Minen, den ſü߬ lächenden Mund, die unausſprechliche Gra¬ zie jeder Bewegung, alles dies zog wieder durch ſein Gedächtniß, und er fühlte ſich
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Menſchen getreu und lebhaft in ſeiner Phanta¬
ſie aufbewahren und ſie dann von neuem vor
ſich hinſtellen konnte, ſo war er in manchen
Augenblicken ungewiß, ob alles was ihn um¬
gab, nicht auch vielleicht eine Schöpfung
ſeiner Einbildung ſey.
Er hielt ſeine Schreibtafel in ſeiner
Hand, und vor ihm im Graſe lag die frem¬
de gefundene. Er hatte den Umriß eines
Kopfes entworfen, den er eben wieder aus¬
ſtrich, weil ihm keine Ähnlichkeit darinn zu
liegen ſchien; es ſollte das Geſicht des frem¬
den Mädchens vorſtellen, die ſeine Phanta¬
ſie unaufhörlich beſchäftigte. Er rief ſich
dabei jeden Umſtand, jedes Wort das ſie
geſprochen hatte, in die Gedanken zurück,
er ſah alle die lieblichen Minen, den ſü߬
lächenden Mund, die unausſprechliche Gra¬
zie jeder Bewegung, alles dies zog wieder
durch ſein Gedächtniß, und er fühlte ſich
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Tieck, Ludwig: Franz Sternbalds Wanderungen. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_sternbald01_1798/176>, abgerufen am 22.11.2024.
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