Deine Meinung ist auch vollkommen die mei- nige. So sonderbar das klingen mag, wenn ein junger Mensch dies einem alten Manne sagt, so ist es mir doch wahrscheinlich, daß ich hierin recht habe. Es ist schwer, sich in den Stand- punkt zu stellen, aus welchem ein Greis die Welt ansieht, allein gewiß nicht unmöglich. Ich finde es so wahr, was Du in Deinem neulichen Brief sagst, es ist so schwer und wieder so leicht, die Seelen der Menschen zu beherrschen, wenn man nur etwas die Fähigkeit besitzt, sich in die Gesinnungen anderer zu versetzen, ihre Verschiedenheiten zu bemerken, und dann Fas- sung und Gleichmüthigkeit genug zu behalten, um in keinem Augenblicke ihnen sein eignes Selbst darzustellen. So wie die Sprache nur in konventionellen Zeichen besteht, und jeder- mann doch mit dem andern spricht, ob er gleich recht gut weiß, daß jener durch seine Worte vielleicht keinen Begriff so bekömmt, wie er
11. Roſa an Andrea Coſimo.
Rom.
Deine Meinung iſt auch vollkommen die mei- nige. So ſonderbar das klingen mag, wenn ein junger Menſch dies einem alten Manne ſagt, ſo iſt es mir doch wahrſcheinlich, daß ich hierin recht habe. Es iſt ſchwer, ſich in den Stand- punkt zu ſtellen, aus welchem ein Greis die Welt anſieht, allein gewiß nicht unmoͤglich. Ich finde es ſo wahr, was Du in Deinem neulichen Brief ſagſt, es iſt ſo ſchwer und wieder ſo leicht, die Seelen der Menſchen zu beherrſchen, wenn man nur etwas die Faͤhigkeit beſitzt, ſich in die Geſinnungen anderer zu verſetzen, ihre Verſchiedenheiten zu bemerken, und dann Faſ- ſung und Gleichmuͤthigkeit genug zu behalten, um in keinem Augenblicke ihnen ſein eignes Selbſt darzuſtellen. So wie die Sprache nur in konventionellen Zeichen beſteht, und jeder- mann doch mit dem andern ſpricht, ob er gleich recht gut weiß, daß jener durch ſeine Worte vielleicht keinen Begriff ſo bekoͤmmt, wie er
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11.
Roſa an Andrea Coſimo.
Rom.
Deine Meinung iſt auch vollkommen die mei-
nige. So ſonderbar das klingen mag, wenn
ein junger Menſch dies einem alten Manne ſagt,
ſo iſt es mir doch wahrſcheinlich, daß ich hierin
recht habe. Es iſt ſchwer, ſich in den Stand-
punkt zu ſtellen, aus welchem ein Greis die
Welt anſieht, allein gewiß nicht unmoͤglich. Ich
finde es ſo wahr, was Du in Deinem neulichen
Brief ſagſt, es iſt ſo ſchwer und wieder ſo
leicht, die Seelen der Menſchen zu beherrſchen,
wenn man nur etwas die Faͤhigkeit beſitzt, ſich
in die Geſinnungen anderer zu verſetzen, ihre
Verſchiedenheiten zu bemerken, und dann Faſ-
ſung und Gleichmuͤthigkeit genug zu behalten,
um in keinem Augenblicke ihnen ſein eignes
Selbſt darzuſtellen. So wie die Sprache nur
in konventionellen Zeichen beſteht, und jeder-
mann doch mit dem andern ſpricht, ob er gleich
recht gut weiß, daß jener durch ſeine Worte
vielleicht keinen Begriff ſo bekoͤmmt, wie er
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/65>, abgerufen am 21.11.2024.
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