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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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9.
William Lovell an Rosa.


Sie haben Recht, Rosa, daß uns das Unge-
wöhnliche und Seltsame sehr oft näher liegt, als
wir gemeiniglich glauben, ja, daß es oft mit dem
Gewöhnlichen ganz dasselbe ist, nur daß es sich hier
in einer andern Beziehung zeigt, als dort. Ich
habe so eben den Brief Balders vor mir, und ver-
gleiche ihn mit einigen Ideen meines Vaters, die
er kurz vor seinem Tode niederschrieb, und ich
finde, daß beide dasselbe nur mit andern Worten
sagen, daß ich alles selbst schon außerordentlich
oft gedacht, nur niemals ausgedrückt habe. Die
verschiedenartigsten Meinungen der Menschen,
zwischen denen ungeheure Klüfte befestigt schei-
nen, vereinigen sich wieder im Gefühle, die
Worte, die äußern Kleider der Seele, sind es
nur, die sie verschieden erscheinen lassen. Unsre
kühnsten Gedanken, unsre frechsten Zweifel, die
alles vertilgen, und gleichsam durch eine unge-
heure Leere streifen, durch ein Land, das sie
selbst entvölkert haben, beugen sich wieder unter

einem
9.
William Lovell an Roſa.


Sie haben Recht, Roſa, daß uns das Unge-
woͤhnliche und Seltſame ſehr oft naͤher liegt, als
wir gemeiniglich glauben, ja, daß es oft mit dem
Gewoͤhnlichen ganz daſſelbe iſt, nur daß es ſich hier
in einer andern Beziehung zeigt, als dort. Ich
habe ſo eben den Brief Balders vor mir, und ver-
gleiche ihn mit einigen Ideen meines Vaters, die
er kurz vor ſeinem Tode niederſchrieb, und ich
finde, daß beide daſſelbe nur mit andern Worten
ſagen, daß ich alles ſelbſt ſchon außerordentlich
oft gedacht, nur niemals ausgedruͤckt habe. Die
verſchiedenartigſten Meinungen der Menſchen,
zwiſchen denen ungeheure Kluͤfte befeſtigt ſchei-
nen, vereinigen ſich wieder im Gefuͤhle, die
Worte, die aͤußern Kleider der Seele, ſind es
nur, die ſie verſchieden erſcheinen laſſen. Unſre
kuͤhnſten Gedanken, unſre frechſten Zweifel, die
alles vertilgen, und gleichſam durch eine unge-
heure Leere ſtreifen, durch ein Land, das ſie
ſelbſt entvoͤlkert haben, beugen ſich wieder unter

einem
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[256/0262] 9. William Lovell an Roſa. Rom. Sie haben Recht, Roſa, daß uns das Unge- woͤhnliche und Seltſame ſehr oft naͤher liegt, als wir gemeiniglich glauben, ja, daß es oft mit dem Gewoͤhnlichen ganz daſſelbe iſt, nur daß es ſich hier in einer andern Beziehung zeigt, als dort. Ich habe ſo eben den Brief Balders vor mir, und ver- gleiche ihn mit einigen Ideen meines Vaters, die er kurz vor ſeinem Tode niederſchrieb, und ich finde, daß beide daſſelbe nur mit andern Worten ſagen, daß ich alles ſelbſt ſchon außerordentlich oft gedacht, nur niemals ausgedruͤckt habe. Die verſchiedenartigſten Meinungen der Menſchen, zwiſchen denen ungeheure Kluͤfte befeſtigt ſchei- nen, vereinigen ſich wieder im Gefuͤhle, die Worte, die aͤußern Kleider der Seele, ſind es nur, die ſie verſchieden erſcheinen laſſen. Unſre kuͤhnſten Gedanken, unſre frechſten Zweifel, die alles vertilgen, und gleichſam durch eine unge- heure Leere ſtreifen, durch ein Land, das ſie ſelbſt entvoͤlkert haben, beugen ſich wieder unter einem

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/262>, abgerufen am 21.11.2024.