Sie haben Recht, Rosa, daß uns das Unge- wöhnliche und Seltsame sehr oft näher liegt, als wir gemeiniglich glauben, ja, daß es oft mit dem Gewöhnlichen ganz dasselbe ist, nur daß es sich hier in einer andern Beziehung zeigt, als dort. Ich habe so eben den Brief Balders vor mir, und ver- gleiche ihn mit einigen Ideen meines Vaters, die er kurz vor seinem Tode niederschrieb, und ich finde, daß beide dasselbe nur mit andern Worten sagen, daß ich alles selbst schon außerordentlich oft gedacht, nur niemals ausgedrückt habe. Die verschiedenartigsten Meinungen der Menschen, zwischen denen ungeheure Klüfte befestigt schei- nen, vereinigen sich wieder im Gefühle, die Worte, die äußern Kleider der Seele, sind es nur, die sie verschieden erscheinen lassen. Unsre kühnsten Gedanken, unsre frechsten Zweifel, die alles vertilgen, und gleichsam durch eine unge- heure Leere streifen, durch ein Land, das sie selbst entvölkert haben, beugen sich wieder unter
einem
9. William Lovell an Roſa.
Rom.
Sie haben Recht, Roſa, daß uns das Unge- woͤhnliche und Seltſame ſehr oft naͤher liegt, als wir gemeiniglich glauben, ja, daß es oft mit dem Gewoͤhnlichen ganz daſſelbe iſt, nur daß es ſich hier in einer andern Beziehung zeigt, als dort. Ich habe ſo eben den Brief Balders vor mir, und ver- gleiche ihn mit einigen Ideen meines Vaters, die er kurz vor ſeinem Tode niederſchrieb, und ich finde, daß beide daſſelbe nur mit andern Worten ſagen, daß ich alles ſelbſt ſchon außerordentlich oft gedacht, nur niemals ausgedruͤckt habe. Die verſchiedenartigſten Meinungen der Menſchen, zwiſchen denen ungeheure Kluͤfte befeſtigt ſchei- nen, vereinigen ſich wieder im Gefuͤhle, die Worte, die aͤußern Kleider der Seele, ſind es nur, die ſie verſchieden erſcheinen laſſen. Unſre kuͤhnſten Gedanken, unſre frechſten Zweifel, die alles vertilgen, und gleichſam durch eine unge- heure Leere ſtreifen, durch ein Land, das ſie ſelbſt entvoͤlkert haben, beugen ſich wieder unter
einem
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0262"n="256"/><divn="2"><head>9.<lb/><hirendition="#g">William Lovell</hi> an <hirendition="#g">Roſa</hi>.</head><lb/><dateline><placeName><hirendition="#right"><hirendition="#g">Rom</hi>.</hi></placeName></dateline><lb/><p><hirendition="#in">S</hi>ie haben Recht, Roſa, daß uns das Unge-<lb/>
woͤhnliche und Seltſame ſehr oft naͤher liegt, als<lb/>
wir gemeiniglich glauben, ja, daß es oft mit dem<lb/>
Gewoͤhnlichen ganz daſſelbe iſt, nur daß es ſich hier<lb/>
in einer andern Beziehung zeigt, als dort. Ich<lb/>
habe ſo eben den Brief Balders vor mir, und ver-<lb/>
gleiche ihn mit einigen Ideen meines Vaters, die<lb/>
er kurz vor ſeinem Tode niederſchrieb, und ich<lb/>
finde, daß beide daſſelbe nur mit andern Worten<lb/>ſagen, daß ich alles ſelbſt ſchon außerordentlich<lb/>
oft gedacht, nur niemals ausgedruͤckt habe. Die<lb/>
verſchiedenartigſten Meinungen der Menſchen,<lb/>
zwiſchen denen ungeheure Kluͤfte befeſtigt ſchei-<lb/>
nen, vereinigen ſich wieder im Gefuͤhle, die<lb/>
Worte, die aͤußern Kleider der Seele, ſind es<lb/>
nur, die ſie verſchieden erſcheinen laſſen. Unſre<lb/>
kuͤhnſten <choice><sic>Gedauken</sic><corr>Gedanken</corr></choice>, unſre frechſten Zweifel, die<lb/>
alles vertilgen, und gleichſam durch eine unge-<lb/>
heure Leere ſtreifen, durch ein Land, das ſie<lb/>ſelbſt entvoͤlkert haben, beugen ſich wieder unter<lb/><fwplace="bottom"type="catch">einem</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[256/0262]
9.
William Lovell an Roſa.
Rom.
Sie haben Recht, Roſa, daß uns das Unge-
woͤhnliche und Seltſame ſehr oft naͤher liegt, als
wir gemeiniglich glauben, ja, daß es oft mit dem
Gewoͤhnlichen ganz daſſelbe iſt, nur daß es ſich hier
in einer andern Beziehung zeigt, als dort. Ich
habe ſo eben den Brief Balders vor mir, und ver-
gleiche ihn mit einigen Ideen meines Vaters, die
er kurz vor ſeinem Tode niederſchrieb, und ich
finde, daß beide daſſelbe nur mit andern Worten
ſagen, daß ich alles ſelbſt ſchon außerordentlich
oft gedacht, nur niemals ausgedruͤckt habe. Die
verſchiedenartigſten Meinungen der Menſchen,
zwiſchen denen ungeheure Kluͤfte befeſtigt ſchei-
nen, vereinigen ſich wieder im Gefuͤhle, die
Worte, die aͤußern Kleider der Seele, ſind es
nur, die ſie verſchieden erſcheinen laſſen. Unſre
kuͤhnſten Gedanken, unſre frechſten Zweifel, die
alles vertilgen, und gleichſam durch eine unge-
heure Leere ſtreifen, durch ein Land, das ſie
ſelbſt entvoͤlkert haben, beugen ſich wieder unter
einem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/262>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.