IV. Die Sprachfähigkeit ist nicht bey allen mensch- lichen Jndividuen gleich groß. Bestätigung der Meinung, daß irgend einige Jndivi- duen sich selbst überlassen eine Sprache er- finden würden.
Die Philosophen, welche den Schritt von der Sprach- losigkeit bis zur Sprache zu groß für die Kräfte des sich selbst überlassenen Menschen gehalten haben, fan- den die Schwierigkeit entweder in der Sache selbst, oder in dem zu schwachen Entwickelungstriebe des Naturwi- tzes, und in der überwiegenden Trägheit des Menschen, der gerne auf jeder Stufe seiner Ausbildung stehen blei- bet, von der ihn nicht thierische Bedürfnisse weiter drän- gen. Die erste dieser Schwierigkeiten kann nunmehro für völlig gehoben erkläret werden. Die Sprache lieget dem Menschen nahe genug, wenn ihm nur die Kraft nicht fehlet, zu ihr hinzuzugehen.
Welche Vorstellung von dem auf der Erde vertheil- ten Menschengeschlecht im Sprach- und Vernunftlosen Stande ist wohl unter den beiden folgenden die richtige. Soll man sich das Geschlecht als einen Haufen von lau- ter natürlichen Dummköpfen und Phlegmatikern vorstel- len, bey denen die Naturanlage des Verstandes ohne Trieb und Regung ist, und in deren Seele die Trägheit die Thätigkeit, die Last die Kraft überwieget? Soll die Jdee von dem Naturmenschen überhaupt, von den einzelnen Thiermenschen, die man gefunden hat, abgezo- gen werden? oder von einigen faulen Völkern in den heißen Erdstrichen, wo die Hitze die Fibern erschlaffet, und jede Anstrengung der Kräfte schmerzhaft machet? oder etwann von denen, die unter einem strengen Him- mel und auf einem unfruchtbaren Boden alle Kräfte auf die Stillung des Hungers und Dursts und auf die Be- deckung vor der Kälte zu verwenden haben? Solche
Völker-
Anhang
IV. Die Sprachfaͤhigkeit iſt nicht bey allen menſch- lichen Jndividuen gleich groß. Beſtaͤtigung der Meinung, daß irgend einige Jndivi- duen ſich ſelbſt uͤberlaſſen eine Sprache er- finden wuͤrden.
Die Philoſophen, welche den Schritt von der Sprach- loſigkeit bis zur Sprache zu groß fuͤr die Kraͤfte des ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Menſchen gehalten haben, fan- den die Schwierigkeit entweder in der Sache ſelbſt, oder in dem zu ſchwachen Entwickelungstriebe des Naturwi- tzes, und in der uͤberwiegenden Traͤgheit des Menſchen, der gerne auf jeder Stufe ſeiner Ausbildung ſtehen blei- bet, von der ihn nicht thieriſche Beduͤrfniſſe weiter draͤn- gen. Die erſte dieſer Schwierigkeiten kann nunmehro fuͤr voͤllig gehoben erklaͤret werden. Die Sprache lieget dem Menſchen nahe genug, wenn ihm nur die Kraft nicht fehlet, zu ihr hinzuzugehen.
Welche Vorſtellung von dem auf der Erde vertheil- ten Menſchengeſchlecht im Sprach- und Vernunftloſen Stande iſt wohl unter den beiden folgenden die richtige. Soll man ſich das Geſchlecht als einen Haufen von lau- ter natuͤrlichen Dummkoͤpfen und Phlegmatikern vorſtel- len, bey denen die Naturanlage des Verſtandes ohne Trieb und Regung iſt, und in deren Seele die Traͤgheit die Thaͤtigkeit, die Laſt die Kraft uͤberwieget? Soll die Jdee von dem Naturmenſchen uͤberhaupt, von den einzelnen Thiermenſchen, die man gefunden hat, abgezo- gen werden? oder von einigen faulen Voͤlkern in den heißen Erdſtrichen, wo die Hitze die Fibern erſchlaffet, und jede Anſtrengung der Kraͤfte ſchmerzhaft machet? oder etwann von denen, die unter einem ſtrengen Him- mel und auf einem unfruchtbaren Boden alle Kraͤfte auf die Stillung des Hungers und Durſts und auf die Be- deckung vor der Kaͤlte zu verwenden haben? Solche
Voͤlker-
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IV.
Die Sprachfaͤhigkeit iſt nicht bey allen menſch-
lichen Jndividuen gleich groß. Beſtaͤtigung
der Meinung, daß irgend einige Jndivi-
duen ſich ſelbſt uͤberlaſſen eine Sprache er-
finden wuͤrden.
Die Philoſophen, welche den Schritt von der Sprach-
loſigkeit bis zur Sprache zu groß fuͤr die Kraͤfte
des ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Menſchen gehalten haben, fan-
den die Schwierigkeit entweder in der Sache ſelbſt, oder
in dem zu ſchwachen Entwickelungstriebe des Naturwi-
tzes, und in der uͤberwiegenden Traͤgheit des Menſchen,
der gerne auf jeder Stufe ſeiner Ausbildung ſtehen blei-
bet, von der ihn nicht thieriſche Beduͤrfniſſe weiter draͤn-
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fuͤr voͤllig gehoben erklaͤret werden. Die Sprache lieget
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nicht fehlet, zu ihr hinzuzugehen.
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Stande iſt wohl unter den beiden folgenden die richtige.
Soll man ſich das Geſchlecht als einen Haufen von lau-
ter natuͤrlichen Dummkoͤpfen und Phlegmatikern vorſtel-
len, bey denen die Naturanlage des Verſtandes ohne
Trieb und Regung iſt, und in deren Seele die Traͤgheit
die Thaͤtigkeit, die Laſt die Kraft uͤberwieget? Soll die
Jdee von dem Naturmenſchen uͤberhaupt, von den
einzelnen Thiermenſchen, die man gefunden hat, abgezo-
gen werden? oder von einigen faulen Voͤlkern in den
heißen Erdſtrichen, wo die Hitze die Fibern erſchlaffet,
und jede Anſtrengung der Kraͤfte ſchmerzhaft machet?
oder etwann von denen, die unter einem ſtrengen Him-
mel und auf einem unfruchtbaren Boden alle Kraͤfte auf
die Stillung des Hungers und Durſts und auf die Be-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 778. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/838>, abgerufen am 21.11.2024.
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