Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.zum eilften Versuch. Völkerarten bleiben sehr leicht von Jahrhundert zu Jahr-hundert ohne Aufklärung und Verbesserung in ihrem ein- maligen Zustande. Sollen es diese Jndividuen allein seyn, woraus man das Maaß der natürlichen Trägheit und Thätigkeit, der Stärke und Schwäche, der Mat- tigkeit und der Lebhaftigkeit der Seelenfähigkeiten in dem sich selbst und der Natur überlassenen Menschen nehmen könne? Oder sollen dagegen die Erfinder in den Kün- sten und Wissenschaften, die vorzüglichen Köpfe, die originellen sich selbst erhebenden Genies Beyspiele seyn, wonach man die Jdee von der Größe der ungefesselt und frey sich hervorarbeitenden Naturtriebe machen müß- te? Die Philosophen, die dem sich selbst überlassenen Menschen die Erfindung der Sprache absprechen, reden von dem Naturmenschen so, als wenn sie nur allein jene vor Augen gehabt; und als wenn nichts mehr von den bloßen Naturkräften zu erwarten wäre, als man von ihnen in solchen schwachen Jndividuen erwarten könne und wirklich erhalten hat. Hr. Herder spricht dagegen von der Macht, von der Stärke und dem Hervordrang der Natur zur Sprache in einem Ton, der es wahr- scheinlich machet, er habe das vortheilhafte Jdeal von dem Naturmenschen, den er zum Genie machet, aus sich selbst und aus dem Gefühl seiner eigenen Schöpfer- kraft entlehnt. Jst jedes menschliche Jndividuum ein gebohrner Dummkopf, so kann der Mensch die Sprache nicht erfinden; aber ist jedes ein mächtig reges Genie, so wird und muß er sie erfinden, wo kein äußeres Ge- wicht ihn niederdrücket. Das letztere ist offenbar unrichtig. Es sind Beobach- Es ist ein allgemeiner Erfahrungssatz, "daß unter "gefun-
zum eilften Verſuch. Voͤlkerarten bleiben ſehr leicht von Jahrhundert zu Jahr-hundert ohne Aufklaͤrung und Verbeſſerung in ihrem ein- maligen Zuſtande. Sollen es dieſe Jndividuen allein ſeyn, woraus man das Maaß der natuͤrlichen Traͤgheit und Thaͤtigkeit, der Staͤrke und Schwaͤche, der Mat- tigkeit und der Lebhaftigkeit der Seelenfaͤhigkeiten in dem ſich ſelbſt und der Natur uͤberlaſſenen Menſchen nehmen koͤnne? Oder ſollen dagegen die Erfinder in den Kuͤn- ſten und Wiſſenſchaften, die vorzuͤglichen Koͤpfe, die originellen ſich ſelbſt erhebenden Genies Beyſpiele ſeyn, wonach man die Jdee von der Groͤße der ungefeſſelt und frey ſich hervorarbeitenden Naturtriebe machen muͤß- te? Die Philoſophen, die dem ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Menſchen die Erfindung der Sprache abſprechen, reden von dem Naturmenſchen ſo, als wenn ſie nur allein jene vor Augen gehabt; und als wenn nichts mehr von den bloßen Naturkraͤften zu erwarten waͤre, als man von ihnen in ſolchen ſchwachen Jndividuen erwarten koͤnne und wirklich erhalten hat. Hr. Herder ſpricht dagegen von der Macht, von der Staͤrke und dem Hervordrang der Natur zur Sprache in einem Ton, der es wahr- ſcheinlich machet, er habe das vortheilhafte Jdeal von dem Naturmenſchen, den er zum Genie machet, aus ſich ſelbſt und aus dem Gefuͤhl ſeiner eigenen Schoͤpfer- kraft entlehnt. Jſt jedes menſchliche Jndividuum ein gebohrner Dummkopf, ſo kann der Menſch die Sprache nicht erfinden; aber iſt jedes ein maͤchtig reges Genie, ſo wird und muß er ſie erfinden, wo kein aͤußeres Ge- wicht ihn niederdruͤcket. Das letztere iſt offenbar unrichtig. Es ſind Beobach- Es iſt ein allgemeiner Erfahrungsſatz, „daß unter „gefun-
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zum eilften Verſuch.
Voͤlkerarten bleiben ſehr leicht von Jahrhundert zu Jahr-
hundert ohne Aufklaͤrung und Verbeſſerung in ihrem ein-
maligen Zuſtande. Sollen es dieſe Jndividuen allein
ſeyn, woraus man das Maaß der natuͤrlichen Traͤgheit
und Thaͤtigkeit, der Staͤrke und Schwaͤche, der Mat-
tigkeit und der Lebhaftigkeit der Seelenfaͤhigkeiten in dem
ſich ſelbſt und der Natur uͤberlaſſenen Menſchen nehmen
koͤnne? Oder ſollen dagegen die Erfinder in den Kuͤn-
ſten und Wiſſenſchaften, die vorzuͤglichen Koͤpfe, die
originellen ſich ſelbſt erhebenden Genies Beyſpiele ſeyn,
wonach man die Jdee von der Groͤße der ungefeſſelt und
frey ſich hervorarbeitenden Naturtriebe machen muͤß-
te? Die Philoſophen, die dem ſich ſelbſt uͤberlaſſenen
Menſchen die Erfindung der Sprache abſprechen, reden
von dem Naturmenſchen ſo, als wenn ſie nur allein jene
vor Augen gehabt; und als wenn nichts mehr von den
bloßen Naturkraͤften zu erwarten waͤre, als man von
ihnen in ſolchen ſchwachen Jndividuen erwarten koͤnne
und wirklich erhalten hat. Hr. Herder ſpricht dagegen
von der Macht, von der Staͤrke und dem Hervordrang
der Natur zur Sprache in einem Ton, der es wahr-
ſcheinlich machet, er habe das vortheilhafte Jdeal von
dem Naturmenſchen, den er zum Genie machet, aus
ſich ſelbſt und aus dem Gefuͤhl ſeiner eigenen Schoͤpfer-
kraft entlehnt. Jſt jedes menſchliche Jndividuum ein
gebohrner Dummkopf, ſo kann der Menſch die Sprache
nicht erfinden; aber iſt jedes ein maͤchtig reges Genie,
ſo wird und muß er ſie erfinden, wo kein aͤußeres Ge-
wicht ihn niederdruͤcket.
Das letztere iſt offenbar unrichtig. Es ſind Beobach-
tungen dagegen. Aber iſt das erſtere es weniger? Die
wahre Vorſtellung lieget wohl in der Mitte von beiden.
Es iſt ein allgemeiner Erfahrungsſatz, „daß unter
„jedwedem Volk von einiger Groͤße in allen unterſchiede-
„nen Graden der Kultur, unter jedem Himmelsſtrich, —
„faſt ohne Ausnahme — einzelne originelle Menſchen
„gefun-
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