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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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zum eilften Versuch.
in ihren Verbindungen für einen göttlichen Unterricht zu
niedrig seyn, wenn gleich das Außerwesentliche, das
Hinzukommende hier durch das Zuviel, dort durch das
Zuwenig offenbar das Gepräge des durch Zufälle in
seiner Ausbildung geleiteten Menschen an sich träget. Aber
gesetzt auch, der erste Grundriß der ersten Sprache sey
mangelhaft, hat nicht auch ein göttlicher Anführer sich
nach der Einschränkung der menschlichen Seelenkräfte in
dem ersten Zustande richten müssen, die eines solchen
Mittels, Gedanken auszudrücken, unfähig waren, wel-
ches alle in einer Bezeichnungskunst beysammen mögli-
che Vollkommenheiten in sich vereinigte?

So viel sehe ich als entschieden an. Wenn der
Mensch mit Menschen in Gesellschaft zusammenlebet, so
würde irgendwo irgendjemand auf den Ausdruck der Ge-
danken durch Töne gerathen können, und also würden
Sprachen in dem sprachlosen Menschengeschlecht entstehen
können. Die Anlage des Menschen zum Sprechen
lässet darüber keinen Zweifel, zumal wenn man erwäget,
was diese aus innerer Kraft bey unsern Kindern wirklich
thut, wo sie ja nur durch nähere Veranlassungen von
außen hervorgelocket, aber nicht innerlich unmittelbar ge-
stimmet wird, und was dieselbige Erfindungskraft in
den Umänderungen und Erweiterungen der Sprache wirk-
lich geleistet hat. Aber würde denn nicht auch die
Sprache irgendwo von irgendjemanden wirklich erfun-
den werden?
müßte sie nicht erfunden werden? Wenn
nicht in dem heißen und trägmachenden Afrika, oder in
dem erstarrenden Nova Zembla, doch unter dem sanf-
tern Himmel Griechenlandes, oder noch ehe in dem die
Phantasie erhitzenden Asien? Sollte nicht hie und da
Einer
von den auf der Erde zerstreueten Vernunft- und
Sprachkeimen sich von selbst, durch zufällige Veranlas-
sungen gereizet, aufschließen und hervorgehen müssen?

IV. Die
C c c 5

zum eilften Verſuch.
in ihren Verbindungen fuͤr einen goͤttlichen Unterricht zu
niedrig ſeyn, wenn gleich das Außerweſentliche, das
Hinzukommende hier durch das Zuviel, dort durch das
Zuwenig offenbar das Gepraͤge des durch Zufaͤlle in
ſeiner Ausbildung geleiteten Menſchen an ſich traͤget. Aber
geſetzt auch, der erſte Grundriß der erſten Sprache ſey
mangelhaft, hat nicht auch ein goͤttlicher Anfuͤhrer ſich
nach der Einſchraͤnkung der menſchlichen Seelenkraͤfte in
dem erſten Zuſtande richten muͤſſen, die eines ſolchen
Mittels, Gedanken auszudruͤcken, unfaͤhig waren, wel-
ches alle in einer Bezeichnungskunſt beyſammen moͤgli-
che Vollkommenheiten in ſich vereinigte?

So viel ſehe ich als entſchieden an. Wenn der
Menſch mit Menſchen in Geſellſchaft zuſammenlebet, ſo
wuͤrde irgendwo irgendjemand auf den Ausdruck der Ge-
danken durch Toͤne gerathen koͤnnen, und alſo wuͤrden
Sprachen in dem ſprachloſen Menſchengeſchlecht entſtehen
koͤnnen. Die Anlage des Menſchen zum Sprechen
laͤſſet daruͤber keinen Zweifel, zumal wenn man erwaͤget,
was dieſe aus innerer Kraft bey unſern Kindern wirklich
thut, wo ſie ja nur durch naͤhere Veranlaſſungen von
außen hervorgelocket, aber nicht innerlich unmittelbar ge-
ſtimmet wird, und was dieſelbige Erfindungskraft in
den Umaͤnderungen und Erweiterungen der Sprache wirk-
lich geleiſtet hat. Aber wuͤrde denn nicht auch die
Sprache irgendwo von irgendjemanden wirklich erfun-
den werden?
muͤßte ſie nicht erfunden werden? Wenn
nicht in dem heißen und traͤgmachenden Afrika, oder in
dem erſtarrenden Nova Zembla, doch unter dem ſanf-
tern Himmel Griechenlandes, oder noch ehe in dem die
Phantaſie erhitzenden Aſien? Sollte nicht hie und da
Einer
von den auf der Erde zerſtreueten Vernunft- und
Sprachkeimen ſich von ſelbſt, durch zufaͤllige Veranlaſ-
ſungen gereizet, aufſchließen und hervorgehen muͤſſen?

IV. Die
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[777/0837] zum eilften Verſuch. in ihren Verbindungen fuͤr einen goͤttlichen Unterricht zu niedrig ſeyn, wenn gleich das Außerweſentliche, das Hinzukommende hier durch das Zuviel, dort durch das Zuwenig offenbar das Gepraͤge des durch Zufaͤlle in ſeiner Ausbildung geleiteten Menſchen an ſich traͤget. Aber geſetzt auch, der erſte Grundriß der erſten Sprache ſey mangelhaft, hat nicht auch ein goͤttlicher Anfuͤhrer ſich nach der Einſchraͤnkung der menſchlichen Seelenkraͤfte in dem erſten Zuſtande richten muͤſſen, die eines ſolchen Mittels, Gedanken auszudruͤcken, unfaͤhig waren, wel- ches alle in einer Bezeichnungskunſt beyſammen moͤgli- che Vollkommenheiten in ſich vereinigte? So viel ſehe ich als entſchieden an. Wenn der Menſch mit Menſchen in Geſellſchaft zuſammenlebet, ſo wuͤrde irgendwo irgendjemand auf den Ausdruck der Ge- danken durch Toͤne gerathen koͤnnen, und alſo wuͤrden Sprachen in dem ſprachloſen Menſchengeſchlecht entſtehen koͤnnen. Die Anlage des Menſchen zum Sprechen laͤſſet daruͤber keinen Zweifel, zumal wenn man erwaͤget, was dieſe aus innerer Kraft bey unſern Kindern wirklich thut, wo ſie ja nur durch naͤhere Veranlaſſungen von außen hervorgelocket, aber nicht innerlich unmittelbar ge- ſtimmet wird, und was dieſelbige Erfindungskraft in den Umaͤnderungen und Erweiterungen der Sprache wirk- lich geleiſtet hat. Aber wuͤrde denn nicht auch die Sprache irgendwo von irgendjemanden wirklich erfun- den werden? muͤßte ſie nicht erfunden werden? Wenn nicht in dem heißen und traͤgmachenden Afrika, oder in dem erſtarrenden Nova Zembla, doch unter dem ſanf- tern Himmel Griechenlandes, oder noch ehe in dem die Phantaſie erhitzenden Aſien? Sollte nicht hie und da Einer von den auf der Erde zerſtreueten Vernunft- und Sprachkeimen ſich von ſelbſt, durch zufaͤllige Veranlaſ- ſungen gereizet, aufſchließen und hervorgehen muͤſſen? IV. Die C c c 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 777. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/837>, abgerufen am 21.11.2024.