Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Versuch. Von der Nothwendigkeit
alle Falten aufzuschlagen, unter welchen die Skepsis sich
verstecken kann. Jn dem Organon des Hrn. Lam-
berts,
*) ist so viel eindringendes hierüber gesagt, daß
man daraus die Einschränkung des Satzes, es sey die
sinnliche Erkenntniß nur subjektivischer Schein, sich ab-
strahiren kann. Sie ist es größtentheils an ihrer breite-
sten Seite: aber doch nicht ganz und gar. Darf ich
besorgen, daß der Mond und die Sonne nur zwey Kör-
per von verschiedenen Beschaffenheiten zu seyn scheinen,
und es doch wohl an sich nicht sind? Jst es zweifelhaft,
ob das Buch was ich aufgeschlagen vor mir liegen habe,
der zweyte Band des Lambertischen Organons sey, und
mir nur so scheine? Es sind nur einige Anmerkungen,
die ich als eine Nachlese über den Gang des Menschen-
verstandes hiebey anfügen will.

5.

Erster Satz. "Die sinnlichen Eindrücke von den
"Objekten, die vermittelst einzelner Sinne entstehen,
"entsprechen ihren Objekten nur von Einer Seite be-
"trachtet, oder nur relative auf diesen Sinn." Die
Jdentität oder Diversität solcher Jmpressionen, wenn
auch alles übrige so ist, wie es seyn müßte, kann also
nur die Verhältnisse der Objekte von einer gewissen Seite
genommen, darstellen; nicht aber die Verhältnisse der
Dinge selbst. Ein Kegel, von dem ich nichts mehr
sehen kann, als seine Grundfläche, muß mir wie eine
Scheibe von derselben Größe vorkommen. Beide sind
einander von dieser Seite ähnlich, sonsten sehr verschieden.

Zweyter Satz. "Jndessen haben wir Jmpressio-
"nen von den Körpern vermittelst des Gefühls, von ih-
"rer Ausdehnung und Solidität, die wir mit den Jm-
"pressionen durch das Gesicht, und die übrigen Sinne

"verbin-
*) Zweyter Band. Phänomologie. Hauptstück II.

VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
alle Falten aufzuſchlagen, unter welchen die Skepſis ſich
verſtecken kann. Jn dem Organon des Hrn. Lam-
berts,
*) iſt ſo viel eindringendes hieruͤber geſagt, daß
man daraus die Einſchraͤnkung des Satzes, es ſey die
ſinnliche Erkenntniß nur ſubjektiviſcher Schein, ſich ab-
ſtrahiren kann. Sie iſt es groͤßtentheils an ihrer breite-
ſten Seite: aber doch nicht ganz und gar. Darf ich
beſorgen, daß der Mond und die Sonne nur zwey Koͤr-
per von verſchiedenen Beſchaffenheiten zu ſeyn ſcheinen,
und es doch wohl an ſich nicht ſind? Jſt es zweifelhaft,
ob das Buch was ich aufgeſchlagen vor mir liegen habe,
der zweyte Band des Lambertiſchen Organons ſey, und
mir nur ſo ſcheine? Es ſind nur einige Anmerkungen,
die ich als eine Nachleſe uͤber den Gang des Menſchen-
verſtandes hiebey anfuͤgen will.

5.

Erſter Satz. „Die ſinnlichen Eindruͤcke von den
„Objekten, die vermittelſt einzelner Sinne entſtehen,
„entſprechen ihren Objekten nur von Einer Seite be-
„trachtet, oder nur relative auf dieſen Sinn.‟ Die
Jdentitaͤt oder Diverſitaͤt ſolcher Jmpreſſionen, wenn
auch alles uͤbrige ſo iſt, wie es ſeyn muͤßte, kann alſo
nur die Verhaͤltniſſe der Objekte von einer gewiſſen Seite
genommen, darſtellen; nicht aber die Verhaͤltniſſe der
Dinge ſelbſt. Ein Kegel, von dem ich nichts mehr
ſehen kann, als ſeine Grundflaͤche, muß mir wie eine
Scheibe von derſelben Groͤße vorkommen. Beide ſind
einander von dieſer Seite aͤhnlich, ſonſten ſehr verſchieden.

Zweyter Satz. „Jndeſſen haben wir Jmpreſſio-
„nen von den Koͤrpern vermittelſt des Gefuͤhls, von ih-
„rer Ausdehnung und Soliditaͤt, die wir mit den Jm-
„preſſionen durch das Geſicht, und die uͤbrigen Sinne

„verbin-
*) Zweyter Band. Phaͤnomologie. Hauptſtuͤck II.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0608" n="548"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Ver&#x017F;uch. Von der Nothwendigkeit</hi></fw><lb/>
alle Falten aufzu&#x017F;chlagen, unter welchen die Skep&#x017F;is &#x017F;ich<lb/>
ver&#x017F;tecken kann. Jn dem Organon des Hrn. <hi rendition="#fr">Lam-<lb/>
berts,</hi> <note place="foot" n="*)">Zweyter Band. Pha&#x0364;nomologie. Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck <hi rendition="#aq">II.</hi></note> i&#x017F;t &#x017F;o viel eindringendes hieru&#x0364;ber ge&#x017F;agt, daß<lb/>
man daraus die Ein&#x017F;chra&#x0364;nkung des Satzes, es &#x017F;ey die<lb/>
&#x017F;innliche Erkenntniß nur &#x017F;ubjektivi&#x017F;cher Schein, &#x017F;ich ab-<lb/>
&#x017F;trahiren kann. Sie i&#x017F;t es gro&#x0364;ßtentheils an ihrer breite-<lb/>
&#x017F;ten Seite: aber doch nicht ganz und gar. Darf ich<lb/>
be&#x017F;orgen, daß der Mond und die Sonne nur zwey Ko&#x0364;r-<lb/>
per von ver&#x017F;chiedenen Be&#x017F;chaffenheiten zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinen,<lb/>
und es doch wohl an &#x017F;ich nicht &#x017F;ind? J&#x017F;t es zweifelhaft,<lb/>
ob das Buch was ich aufge&#x017F;chlagen vor mir liegen habe,<lb/>
der zweyte Band des Lamberti&#x017F;chen Organons &#x017F;ey, und<lb/>
mir nur &#x017F;o &#x017F;cheine? Es &#x017F;ind nur einige Anmerkungen,<lb/>
die ich als eine Nachle&#x017F;e u&#x0364;ber den Gang des Men&#x017F;chen-<lb/>
ver&#x017F;tandes hiebey anfu&#x0364;gen will.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>5.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Er&#x017F;ter Satz.</hi> &#x201E;Die &#x017F;innlichen Eindru&#x0364;cke von den<lb/>
&#x201E;Objekten, die vermittel&#x017F;t einzelner Sinne ent&#x017F;tehen,<lb/>
&#x201E;ent&#x017F;prechen ihren Objekten nur von <hi rendition="#fr">Einer</hi> Seite be-<lb/>
&#x201E;trachtet, oder nur relative auf die&#x017F;en Sinn.&#x201F; Die<lb/>
Jdentita&#x0364;t oder Diver&#x017F;ita&#x0364;t &#x017F;olcher Jmpre&#x017F;&#x017F;ionen, wenn<lb/>
auch alles u&#x0364;brige &#x017F;o i&#x017F;t, wie es &#x017F;eyn mu&#x0364;ßte, kann al&#x017F;o<lb/>
nur die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der Objekte von einer gewi&#x017F;&#x017F;en Seite<lb/>
genommen, dar&#x017F;tellen; nicht aber die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der<lb/>
Dinge &#x017F;elb&#x017F;t. Ein Kegel, von dem ich nichts mehr<lb/>
&#x017F;ehen kann, als &#x017F;eine Grundfla&#x0364;che, muß mir wie eine<lb/>
Scheibe von der&#x017F;elben Gro&#x0364;ße vorkommen. Beide &#x017F;ind<lb/>
einander von die&#x017F;er Seite a&#x0364;hnlich, &#x017F;on&#x017F;ten &#x017F;ehr ver&#x017F;chieden.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Zweyter Satz.</hi> &#x201E;Jnde&#x017F;&#x017F;en haben wir Jmpre&#x017F;&#x017F;io-<lb/>
&#x201E;nen von den Ko&#x0364;rpern vermittel&#x017F;t des Gefu&#x0364;hls, von ih-<lb/>
&#x201E;rer Ausdehnung und Solidita&#x0364;t, die wir mit den Jm-<lb/>
&#x201E;pre&#x017F;&#x017F;ionen durch das Ge&#x017F;icht, und die u&#x0364;brigen Sinne<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;verbin-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[548/0608] VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit alle Falten aufzuſchlagen, unter welchen die Skepſis ſich verſtecken kann. Jn dem Organon des Hrn. Lam- berts, *) iſt ſo viel eindringendes hieruͤber geſagt, daß man daraus die Einſchraͤnkung des Satzes, es ſey die ſinnliche Erkenntniß nur ſubjektiviſcher Schein, ſich ab- ſtrahiren kann. Sie iſt es groͤßtentheils an ihrer breite- ſten Seite: aber doch nicht ganz und gar. Darf ich beſorgen, daß der Mond und die Sonne nur zwey Koͤr- per von verſchiedenen Beſchaffenheiten zu ſeyn ſcheinen, und es doch wohl an ſich nicht ſind? Jſt es zweifelhaft, ob das Buch was ich aufgeſchlagen vor mir liegen habe, der zweyte Band des Lambertiſchen Organons ſey, und mir nur ſo ſcheine? Es ſind nur einige Anmerkungen, die ich als eine Nachleſe uͤber den Gang des Menſchen- verſtandes hiebey anfuͤgen will. 5. Erſter Satz. „Die ſinnlichen Eindruͤcke von den „Objekten, die vermittelſt einzelner Sinne entſtehen, „entſprechen ihren Objekten nur von Einer Seite be- „trachtet, oder nur relative auf dieſen Sinn.‟ Die Jdentitaͤt oder Diverſitaͤt ſolcher Jmpreſſionen, wenn auch alles uͤbrige ſo iſt, wie es ſeyn muͤßte, kann alſo nur die Verhaͤltniſſe der Objekte von einer gewiſſen Seite genommen, darſtellen; nicht aber die Verhaͤltniſſe der Dinge ſelbſt. Ein Kegel, von dem ich nichts mehr ſehen kann, als ſeine Grundflaͤche, muß mir wie eine Scheibe von derſelben Groͤße vorkommen. Beide ſind einander von dieſer Seite aͤhnlich, ſonſten ſehr verſchieden. Zweyter Satz. „Jndeſſen haben wir Jmpreſſio- „nen von den Koͤrpern vermittelſt des Gefuͤhls, von ih- „rer Ausdehnung und Soliditaͤt, die wir mit den Jm- „preſſionen durch das Geſicht, und die uͤbrigen Sinne „verbin- *) Zweyter Band. Phaͤnomologie. Hauptſtuͤck II.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/608
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/608>, abgerufen am 21.11.2024.