verschiedenen Völkern verschieden sein, und beide müssen sich wechselseitig bestimmen. Wie nicht bloß die Gesichtszüge des Engländers, sondern auch die ganze Form des englischen Kopfes etwas Eigenthümliches hat, ebenso müssen auch seine Sprach- organe in entsprechender Weise eigenthümlich gebildet sein. Nun weiß man auch, wie eine gewohnte Arbeit die Entwickelung der Glieder, die bei derselben vorzüglich beschäftigt sind, in auffal- lender Weise bestimmt und diese Glieder besonders formt. Ein englisches Kind also, das im ersten Lebensjahre nach Frank- reich gebracht würde und die französische Sprache als Mutter- sprache erlernte, und ein anderes, das in Rußland russisch lernte, müßten beide ganz anders entwickelte und geformte Sprachor- gane bekommen, als die Engländer, aber auch andere, als die Franzosen und Russen, und jedes müßte andere Organe haben, als das andere. Meßbar freilich, anatomisch bestimmbar, mö- gen diese Verschiedenheiten nicht sein. Kann man aber einen mongolischen und einen europäischen Kopf ansehen und meinen, sie hätten nicht verschiedene Sprachorgane? Die Sprachen er- scheinen lautlich immer noch ähnlicher, als man nach kraniolo- gischen Verschiedenheiten vermuthen dürfte.
Daß dieselben Wahrnehmungen sich bei den verschiedenen Völkern in verschiedenen Lauten reflectiren, kann eben so we- nig Wunder nehmen, als daß der Zorn und jeder andere Affect, jede Leidenschaft, sich auf verschiedenen Gesichtern doch ganz verschieden offenbart, und bei den Menschen verschiedene pa- thologische Erfolge hat. Den Einen treibt der Zorn zum To- ben; dem Andern benimmt er den Athem, daß er nicht spre- chen kann; dem Dritten erregt er einen Erguß der Galle. Kurz alles Leiden des Leibes in Folge von Seelenerregungen zeigt sich so mannigfach gestaltet je nach der individuellen Constitu- tion des Leibes, daß die Verschiedenheit der Lautreflexe auf dieselben Wahrnehmungen bei verschiedenen Völkern nicht auf- fallen kann.
§. 133. Verschiedenheit in der innern Sprachform.
Der wesentlichste Punkt der Sprachverschiedenheit beruht auf der innern Sprachform, auf der Weise, wie das instinctive Selbstbewußtsein die Anschauungen sich aneignet und in Vor- stellungen umsetzt.
Wir haben oben die Sprache mit der sogenannten angebore- nen Idee, d. h. den allgemeinen Kategorien der geistigen Thä-
verschiedenen Völkern verschieden sein, und beide müssen sich wechselseitig bestimmen. Wie nicht bloß die Gesichtszüge des Engländers, sondern auch die ganze Form des englischen Kopfes etwas Eigenthümliches hat, ebenso müssen auch seine Sprach- organe in entsprechender Weise eigenthümlich gebildet sein. Nun weiß man auch, wie eine gewohnte Arbeit die Entwickelung der Glieder, die bei derselben vorzüglich beschäftigt sind, in auffal- lender Weise bestimmt und diese Glieder besonders formt. Ein englisches Kind also, das im ersten Lebensjahre nach Frank- reich gebracht würde und die französische Sprache als Mutter- sprache erlernte, und ein anderes, das in Rußland russisch lernte, müßten beide ganz anders entwickelte und geformte Sprachor- gane bekommen, als die Engländer, aber auch andere, als die Franzosen und Russen, und jedes müßte andere Organe haben, als das andere. Meßbar freilich, anatomisch bestimmbar, mö- gen diese Verschiedenheiten nicht sein. Kann man aber einen mongolischen und einen europäischen Kopf ansehen und meinen, sie hätten nicht verschiedene Sprachorgane? Die Sprachen er- scheinen lautlich immer noch ähnlicher, als man nach kraniolo- gischen Verschiedenheiten vermuthen dürfte.
Daß dieselben Wahrnehmungen sich bei den verschiedenen Völkern in verschiedenen Lauten reflectiren, kann eben so we- nig Wunder nehmen, als daß der Zorn und jeder andere Affect, jede Leidenschaft, sich auf verschiedenen Gesichtern doch ganz verschieden offenbart, und bei den Menschen verschiedene pa- thologische Erfolge hat. Den Einen treibt der Zorn zum To- ben; dem Andern benimmt er den Athem, daß er nicht spre- chen kann; dem Dritten erregt er einen Erguß der Galle. Kurz alles Leiden des Leibes in Folge von Seelenerregungen zeigt sich so mannigfach gestaltet je nach der individuellen Constitu- tion des Leibes, daß die Verschiedenheit der Lautreflexe auf dieselben Wahrnehmungen bei verschiedenen Völkern nicht auf- fallen kann.
§. 133. Verschiedenheit in der innern Sprachform.
Der wesentlichste Punkt der Sprachverschiedenheit beruht auf der innern Sprachform, auf der Weise, wie das instinctive Selbstbewußtsein die Anschauungen sich aneignet und in Vor- stellungen umsetzt.
Wir haben oben die Sprache mit der sogenannten angebore- nen Idee, d. h. den allgemeinen Kategorien der geistigen Thä-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0413"n="375"/>
verschiedenen Völkern verschieden sein, und beide müssen sich<lb/>
wechselseitig bestimmen. Wie nicht bloß die Gesichtszüge des<lb/>
Engländers, sondern auch die ganze Form des englischen Kopfes<lb/>
etwas Eigenthümliches hat, ebenso müssen auch seine Sprach-<lb/>
organe in entsprechender Weise eigenthümlich gebildet sein. Nun<lb/>
weiß man auch, wie eine gewohnte Arbeit die Entwickelung der<lb/>
Glieder, die bei derselben vorzüglich beschäftigt sind, in auffal-<lb/>
lender Weise bestimmt und diese Glieder besonders formt. Ein<lb/>
englisches Kind also, das im ersten Lebensjahre nach Frank-<lb/>
reich gebracht würde und die französische Sprache als Mutter-<lb/>
sprache erlernte, und ein anderes, das in Rußland russisch lernte,<lb/>
müßten beide ganz anders entwickelte und geformte Sprachor-<lb/>
gane bekommen, als die Engländer, aber auch andere, als die<lb/>
Franzosen und Russen, und jedes müßte andere Organe haben,<lb/>
als das andere. Meßbar freilich, anatomisch bestimmbar, mö-<lb/>
gen diese Verschiedenheiten nicht sein. Kann man aber einen<lb/>
mongolischen und einen europäischen Kopf ansehen und meinen,<lb/>
sie hätten nicht verschiedene Sprachorgane? Die Sprachen er-<lb/>
scheinen lautlich immer noch ähnlicher, als man nach kraniolo-<lb/>
gischen Verschiedenheiten vermuthen dürfte.</p><lb/><p>Daß dieselben Wahrnehmungen sich bei den verschiedenen<lb/>
Völkern in verschiedenen Lauten reflectiren, kann eben so we-<lb/>
nig Wunder nehmen, als daß der Zorn und jeder andere Affect,<lb/>
jede Leidenschaft, sich auf verschiedenen Gesichtern doch ganz<lb/>
verschieden offenbart, und bei den Menschen verschiedene pa-<lb/>
thologische Erfolge hat. Den Einen treibt der Zorn zum To-<lb/>
ben; dem Andern benimmt er den Athem, daß er nicht spre-<lb/>
chen kann; dem Dritten erregt er einen Erguß der Galle. Kurz<lb/>
alles Leiden des Leibes in Folge von Seelenerregungen zeigt<lb/>
sich so mannigfach gestaltet je nach der individuellen Constitu-<lb/>
tion des Leibes, daß die Verschiedenheit der Lautreflexe auf<lb/>
dieselben Wahrnehmungen bei verschiedenen Völkern nicht auf-<lb/>
fallen kann.</p></div><lb/><divn="4"><head>§. 133. Verschiedenheit in der innern Sprachform.</head><lb/><p>Der wesentlichste Punkt der Sprachverschiedenheit beruht<lb/>
auf der innern Sprachform, auf der Weise, wie das instinctive<lb/>
Selbstbewußtsein die Anschauungen sich aneignet und in Vor-<lb/>
stellungen umsetzt.</p><lb/><p>Wir haben oben die Sprache mit der sogenannten angebore-<lb/>
nen Idee, d. h. den allgemeinen Kategorien der geistigen Thä-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[375/0413]
verschiedenen Völkern verschieden sein, und beide müssen sich
wechselseitig bestimmen. Wie nicht bloß die Gesichtszüge des
Engländers, sondern auch die ganze Form des englischen Kopfes
etwas Eigenthümliches hat, ebenso müssen auch seine Sprach-
organe in entsprechender Weise eigenthümlich gebildet sein. Nun
weiß man auch, wie eine gewohnte Arbeit die Entwickelung der
Glieder, die bei derselben vorzüglich beschäftigt sind, in auffal-
lender Weise bestimmt und diese Glieder besonders formt. Ein
englisches Kind also, das im ersten Lebensjahre nach Frank-
reich gebracht würde und die französische Sprache als Mutter-
sprache erlernte, und ein anderes, das in Rußland russisch lernte,
müßten beide ganz anders entwickelte und geformte Sprachor-
gane bekommen, als die Engländer, aber auch andere, als die
Franzosen und Russen, und jedes müßte andere Organe haben,
als das andere. Meßbar freilich, anatomisch bestimmbar, mö-
gen diese Verschiedenheiten nicht sein. Kann man aber einen
mongolischen und einen europäischen Kopf ansehen und meinen,
sie hätten nicht verschiedene Sprachorgane? Die Sprachen er-
scheinen lautlich immer noch ähnlicher, als man nach kraniolo-
gischen Verschiedenheiten vermuthen dürfte.
Daß dieselben Wahrnehmungen sich bei den verschiedenen
Völkern in verschiedenen Lauten reflectiren, kann eben so we-
nig Wunder nehmen, als daß der Zorn und jeder andere Affect,
jede Leidenschaft, sich auf verschiedenen Gesichtern doch ganz
verschieden offenbart, und bei den Menschen verschiedene pa-
thologische Erfolge hat. Den Einen treibt der Zorn zum To-
ben; dem Andern benimmt er den Athem, daß er nicht spre-
chen kann; dem Dritten erregt er einen Erguß der Galle. Kurz
alles Leiden des Leibes in Folge von Seelenerregungen zeigt
sich so mannigfach gestaltet je nach der individuellen Constitu-
tion des Leibes, daß die Verschiedenheit der Lautreflexe auf
dieselben Wahrnehmungen bei verschiedenen Völkern nicht auf-
fallen kann.
§. 133. Verschiedenheit in der innern Sprachform.
Der wesentlichste Punkt der Sprachverschiedenheit beruht
auf der innern Sprachform, auf der Weise, wie das instinctive
Selbstbewußtsein die Anschauungen sich aneignet und in Vor-
stellungen umsetzt.
Wir haben oben die Sprache mit der sogenannten angebore-
nen Idee, d. h. den allgemeinen Kategorien der geistigen Thä-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/413>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.