geäußert werden soll, für dessen Aeußerung sie geschaffen wur- den, als er zum ersten Male so geäußert wurde; oder richti- ger: die bei der jedesmaligen ersten Aeußerung irgend eines besondern innern Elementes ausgeübte Handlung, welche bei jeder Gelegenheit, wo dasselbe innere Element wieder geäußert wer- den soll, wiederholt wird.
Eine Sprache oder die einzelne Sprache ist der ge- sammte Inbegriff des Sprachmaterials eines Volkes.
§ 57. Betrachtungsweise der Sprachwissenschaft und Beziehungen dersel- ben zu andern Wissenschaften.
Es kann aber nicht genügen, den Gegenstand bloß anzu- geben, wie oben geschehen ist; es muß erst noch gezeigt wer- den, nach welcher Beziehung von ihm die Rede sein solle. Denn man kann von jedem Gegenstande in mannigfacher Beziehung reden, ihn von verschiedenen Seiten und auf mancherlei Weise ansehen. Das Denken z. B. ist Gegenstand der Logik, der Me- taphysik und der Physiologie, aber in jeder dieser Wissenschaften nach einer andern Beziehung; die Pflanzen sind Gegenstand der Botanik und der Materia medica, aber in beiden von verschie- denen Seiten. Man weiß auch schon im voraus, daß die Sprach- wissenschaft die Sprache nicht von allen möglichen Seiten unter- sucht. Niemand wird z. B. von ihr darüber Aufschluß fordern, ob es erlaubt sei, anvertraute Geheimnisse auszusprechen; ob Parlamente und Sprechzimmer schätzenswerthe Einrichtungen sind. Die Wissenschaft aber hat sich zu bestimmen und so zu erklären, daß man einsieht, was und was nicht, warum dies oder jenes nicht von ihr zu verlangen ist, wenn auch noch Niemand daran denkt, es von ihr zu fordern. Sie kann und soll sich na- türlich nicht negativ von andern Wissenschaften und geistigen Sphären abschließen; sie soll nicht erklären, dies und jenes sei sie nicht; sondern sie soll sich positiv in sich einschließen, und sie soll dadurch ihre Gränzen bestimmen, daß sie erklärt, was sie ist.
Die theoretischen Thätigkeiten des Menschen lassen sich unter zwei allgemeinen Classen zusammenfassen, oder beruhen sämmtlich auf zwei geistigen Handlungen: urtheilen und beur- theilen. Im Urtheil liegt eine Erkenntniß; in der Beurtheilung liegt ein ausgesprochenes Lob oder ein Tadel. Man erkennt, was ist, und wie beschaffen etwas ist; man beurtheilt, ob etwas schön oder häßlich, gut oder schlecht, wahr oder falsch und,
geäußert werden soll, für dessen Aeußerung sie geschaffen wur- den, als er zum ersten Male so geäußert wurde; oder richti- ger: die bei der jedesmaligen ersten Aeußerung irgend eines besondern innern Elementes ausgeübte Handlung, welche bei jeder Gelegenheit, wo dasselbe innere Element wieder geäußert wer- den soll, wiederholt wird.
Eine Sprache oder die einzelne Sprache ist der ge- sammte Inbegriff des Sprachmaterials eines Volkes.
§ 57. Betrachtungsweise der Sprachwissenschaft und Beziehungen dersel- ben zu andern Wissenschaften.
Es kann aber nicht genügen, den Gegenstand bloß anzu- geben, wie oben geschehen ist; es muß erst noch gezeigt wer- den, nach welcher Beziehung von ihm die Rede sein solle. Denn man kann von jedem Gegenstande in mannigfacher Beziehung reden, ihn von verschiedenen Seiten und auf mancherlei Weise ansehen. Das Denken z. B. ist Gegenstand der Logik, der Me- taphysik und der Physiologie, aber in jeder dieser Wissenschaften nach einer andern Beziehung; die Pflanzen sind Gegenstand der Botanik und der Materia medica, aber in beiden von verschie- denen Seiten. Man weiß auch schon im voraus, daß die Sprach- wissenschaft die Sprache nicht von allen möglichen Seiten unter- sucht. Niemand wird z. B. von ihr darüber Aufschluß fordern, ob es erlaubt sei, anvertraute Geheimnisse auszusprechen; ob Parlamente und Sprechzimmer schätzenswerthe Einrichtungen sind. Die Wissenschaft aber hat sich zu bestimmen und so zu erklären, daß man einsieht, was und was nicht, warum dies oder jenes nicht von ihr zu verlangen ist, wenn auch noch Niemand daran denkt, es von ihr zu fordern. Sie kann und soll sich na- türlich nicht negativ von andern Wissenschaften und geistigen Sphären abschließen; sie soll nicht erklären, dies und jenes sei sie nicht; sondern sie soll sich positiv in sich einschließen, und sie soll dadurch ihre Gränzen bestimmen, daß sie erklärt, was sie ist.
Die theoretischen Thätigkeiten des Menschen lassen sich unter zwei allgemeinen Classen zusammenfassen, oder beruhen sämmtlich auf zwei geistigen Handlungen: urtheilen und beur- theilen. Im Urtheil liegt eine Erkenntniß; in der Beurtheilung liegt ein ausgesprochenes Lob oder ein Tadel. Man erkennt, was ist, und wie beschaffen etwas ist; man beurtheilt, ob etwas schön oder häßlich, gut oder schlecht, wahr oder falsch und,
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geäußert werden soll, für dessen Aeußerung sie geschaffen wur-
den, als er zum ersten Male so geäußert wurde; oder richti-
ger: die bei der jedesmaligen ersten Aeußerung irgend eines
besondern innern Elementes ausgeübte Handlung, welche bei jeder
Gelegenheit, wo dasselbe innere Element wieder geäußert wer-
den soll, wiederholt wird.
Eine Sprache oder die einzelne Sprache ist der ge-
sammte Inbegriff des Sprachmaterials eines Volkes.
§ 57. Betrachtungsweise der Sprachwissenschaft und Beziehungen dersel-
ben zu andern Wissenschaften.
Es kann aber nicht genügen, den Gegenstand bloß anzu-
geben, wie oben geschehen ist; es muß erst noch gezeigt wer-
den, nach welcher Beziehung von ihm die Rede sein solle. Denn
man kann von jedem Gegenstande in mannigfacher Beziehung
reden, ihn von verschiedenen Seiten und auf mancherlei Weise
ansehen. Das Denken z. B. ist Gegenstand der Logik, der Me-
taphysik und der Physiologie, aber in jeder dieser Wissenschaften
nach einer andern Beziehung; die Pflanzen sind Gegenstand der
Botanik und der Materia medica, aber in beiden von verschie-
denen Seiten. Man weiß auch schon im voraus, daß die Sprach-
wissenschaft die Sprache nicht von allen möglichen Seiten unter-
sucht. Niemand wird z. B. von ihr darüber Aufschluß fordern,
ob es erlaubt sei, anvertraute Geheimnisse auszusprechen; ob
Parlamente und Sprechzimmer schätzenswerthe Einrichtungen
sind. Die Wissenschaft aber hat sich zu bestimmen und so zu
erklären, daß man einsieht, was und was nicht, warum dies oder
jenes nicht von ihr zu verlangen ist, wenn auch noch Niemand
daran denkt, es von ihr zu fordern. Sie kann und soll sich na-
türlich nicht negativ von andern Wissenschaften und geistigen
Sphären abschließen; sie soll nicht erklären, dies und jenes sei
sie nicht; sondern sie soll sich positiv in sich einschließen, und
sie soll dadurch ihre Gränzen bestimmen, daß sie erklärt, was
sie ist.
Die theoretischen Thätigkeiten des Menschen lassen sich
unter zwei allgemeinen Classen zusammenfassen, oder beruhen
sämmtlich auf zwei geistigen Handlungen: urtheilen und beur-
theilen. Im Urtheil liegt eine Erkenntniß; in der Beurtheilung
liegt ein ausgesprochenes Lob oder ein Tadel. Man erkennt,
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/176>, abgerufen am 22.12.2024.
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