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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Da hört' ich geigen, pfeifen, pst_041.002
Die Fenster glänzten weit, pst_041.003
Dazwischen drehn und schleifen pst_041.004
Viel fremde, fröhliche Leut'.
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Und Herz und Sinne mir brannten, pst_041.006
Mich trieb's in die weite Welt, pst_041.007
Es spielten die Musikanten, pst_041.008
Da fiel ich hin im Feld."
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Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere romantischer pst_041.010
Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche pst_041.011
Romantik einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds pst_041.012
und damit der reinsten lyrischen Dichtung erreicht. pst_041.013
Denselben Satzbau finden wir aber auch in Goethes pst_041.014
Lied "An den Mond", in "Über allen Gipfeln ist Ruh'", pst_041.015
bei Verlaine, ja weiter zurück sogar auf lyrischen Höhepunkten pst_041.016
des Barock, des sonst so leidenschaftlich auf pst_041.017
logische Fugen erpichten Jahrhunderts, wie etwa in pst_041.018
Hofmannswaldaus Gedicht "Wo sind die Stunden der pst_041.019
süßen Zeit". Freilich ist es nicht unwillkürliches Dichten, pst_041.020
sondern der feinste Kunstverstand, was hier, pst_041.021
zumal in der letzten Strophe, die lyrische Sprache pst_041.022
schafft:

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"Ich schwamm in Freude, pst_041.024
Der Liebe Hand pst_041.025
Spann mir ein Kleid von Seide, pst_041.026
Das Blatt hat sich gewandt, pst_041.027
Ich geh' im Leide, pst_041.028
Ich wein' itzund, daß Lieb' und Sonnenschein pst_041.029
Stets voller Angst und Wolken sein."
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Da hört' ich geigen, pfeifen, pst_041.002
Die Fenster glänzten weit, pst_041.003
Dazwischen drehn und schleifen pst_041.004
Viel fremde, fröhliche Leut'.
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Mich trieb's in die weite Welt, pst_041.007
Es spielten die Musikanten, pst_041.008
Da fiel ich hin im Feld.»
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  Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere romantischer pst_041.010
Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche pst_041.011
Romantik einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds pst_041.012
und damit der reinsten lyrischen Dichtung erreicht. pst_041.013
Denselben Satzbau finden wir aber auch in Goethes pst_041.014
Lied «An den Mond», in «Über allen Gipfeln ist Ruh'», pst_041.015
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Hofmannswaldaus Gedicht «Wo sind die Stunden der pst_041.019
süßen Zeit». Freilich ist es nicht unwillkürliches Dichten, pst_041.020
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«Ich schwamm in Freude, pst_041.024
Der Liebe Hand pst_041.025
Spann mir ein Kleid von Seide, pst_041.026
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[41/0045] pst_041.001 Da hört' ich geigen, pfeifen, pst_041.002 Die Fenster glänzten weit, pst_041.003 Dazwischen drehn und schleifen pst_041.004 Viel fremde, fröhliche Leut'. pst_041.005 Und Herz und Sinne mir brannten, pst_041.006 Mich trieb's in die weite Welt, pst_041.007 Es spielten die Musikanten, pst_041.008 Da fiel ich hin im Feld.» pst_041.009   Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere romantischer pst_041.010 Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche pst_041.011 Romantik einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds pst_041.012 und damit der reinsten lyrischen Dichtung erreicht. pst_041.013 Denselben Satzbau finden wir aber auch in Goethes pst_041.014 Lied «An den Mond», in «Über allen Gipfeln ist Ruh'», pst_041.015 bei Verlaine, ja weiter zurück sogar auf lyrischen Höhepunkten pst_041.016 des Barock, des sonst so leidenschaftlich auf pst_041.017 logische Fugen erpichten Jahrhunderts, wie etwa in pst_041.018 Hofmannswaldaus Gedicht «Wo sind die Stunden der pst_041.019 süßen Zeit». Freilich ist es nicht unwillkürliches Dichten, pst_041.020 sondern der feinste Kunstverstand, was hier, pst_041.021 zumal in der letzten Strophe, die lyrische Sprache pst_041.022 schafft: pst_041.023 «Ich schwamm in Freude, pst_041.024 Der Liebe Hand pst_041.025 Spann mir ein Kleid von Seide, pst_041.026 Das Blatt hat sich gewandt, pst_041.027 Ich geh' im Leide, pst_041.028 Ich wein' itzund, daß Lieb' und Sonnenschein pst_041.029 Stets voller Angst und Wolken sein.»

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/45>, abgerufen am 26.04.2024.