Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Weilt bei ihrem kleinen Häuschen, laßt eurer Lin-
ken nicht wissen, was eure Rechte giebt! die alte
Mutter wird's mit Danke, mit Thränen empfan-
gen, und Gott wird's lohnen!



Joseph Karl.


Als ich vor zwei Jahren den würdigen und ver-
dienstvollen Freiherrn Emanuel M -- -- von W --
zu N -- in Böhmen besuchte, seine vortrefliche
Oekonomie bewunderte, und in seinen fruchtbaren
Gefilden lustwandelte, erblickte ich mitten im freien
Felde einen Mann, dessen Physiognomie mich so-
gleich anzog, und mir in jedem Falle etwas außeror-
dentliches verkündigte. Er stand im Schatten ei-
nes einzelnen Birnbaums, war angelehnt an sei-
nem Stamme, hielt ein gedrucktes Blatt in seiner
Rechten, und schien den Inhalt desselben mit gie-
rigem Blicke zu verschlingen. Sein grauer, et-
was abgetragner und doch noch saubrer Rock, sei-
ne schwarze Weste und Beinkleider ließen mich
mit Grunde muthmaßen, daß er ein Dorfschul-
meister sei, der schwarz gebrannte Knotenstock,
welcher neben ihm lehnte, bestätigte diese Muth-
maßung, aber der Kopf des Mannes wider-
sprach ihr ganz. So, dachte ich, indem ich ihn

Weilt bei ihrem kleinen Haͤuschen, laßt eurer Lin-
ken nicht wiſſen, was eure Rechte giebt! die alte
Mutter wird's mit Danke, mit Thraͤnen empfan-
gen, und Gott wird's lohnen!



Joſeph Karl.


Als ich vor zwei Jahren den wuͤrdigen und ver-
dienſtvollen Freiherrn Emanuel M — — von W —
zu N — in Boͤhmen beſuchte, ſeine vortrefliche
Oekonomie bewunderte, und in ſeinen fruchtbaren
Gefilden luſtwandelte, erblickte ich mitten im freien
Felde einen Mann, deſſen Phyſiognomie mich ſo-
gleich anzog, und mir in jedem Falle etwas außeror-
dentliches verkuͤndigte. Er ſtand im Schatten ei-
nes einzelnen Birnbaums, war angelehnt an ſei-
nem Stamme, hielt ein gedrucktes Blatt in ſeiner
Rechten, und ſchien den Inhalt deſſelben mit gie-
rigem Blicke zu verſchlingen. Sein grauer, et-
was abgetragner und doch noch ſaubrer Rock, ſei-
ne ſchwarze Weſte und Beinkleider ließen mich
mit Grunde muthmaßen, daß er ein Dorfſchul-
meiſter ſei, der ſchwarz gebrannte Knotenſtock,
welcher neben ihm lehnte, beſtaͤtigte dieſe Muth-
maßung, aber der Kopf des Mannes wider-
ſprach ihr ganz. So, dachte ich, indem ich ihn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0045" n="31"/>
Weilt bei ihrem kleinen Ha&#x0364;uschen, laßt eurer                     Lin-<lb/>
ken nicht wi&#x017F;&#x017F;en, was eure Rechte giebt! die alte<lb/>
Mutter wird's mit                     Danke, mit Thra&#x0364;nen empfan-<lb/>
gen, und Gott wird's lohnen!</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Jo&#x017F;eph Karl</hi>.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p><hi rendition="#in">A</hi>ls ich vor zwei Jahren den wu&#x0364;rdigen und                     ver-<lb/>
dien&#x017F;tvollen Freiherrn Emanuel M &#x2014; &#x2014; von W &#x2014;<lb/>
zu N &#x2014; in Bo&#x0364;hmen                     be&#x017F;uchte, &#x017F;eine vortrefliche<lb/>
Oekonomie bewunderte, und in &#x017F;einen                     fruchtbaren<lb/>
Gefilden lu&#x017F;twandelte, erblickte ich mitten im freien<lb/>
Felde                     einen Mann, de&#x017F;&#x017F;en Phy&#x017F;iognomie mich &#x017F;o-<lb/>
gleich anzog, und mir in jedem                     Falle etwas außeror-<lb/>
dentliches verku&#x0364;ndigte. Er &#x017F;tand im Schatten                     ei-<lb/>
nes einzelnen Birnbaums, war angelehnt an &#x017F;ei-<lb/>
nem Stamme, hielt ein                     gedrucktes Blatt in &#x017F;einer<lb/>
Rechten, und &#x017F;chien den Inhalt de&#x017F;&#x017F;elben mit                     gie-<lb/>
rigem Blicke zu ver&#x017F;chlingen. Sein grauer, et-<lb/>
was abgetragner und                     doch noch &#x017F;aubrer Rock, &#x017F;ei-<lb/>
ne &#x017F;chwarze We&#x017F;te und Beinkleider ließen                     mich<lb/>
mit Grunde muthmaßen, daß er ein Dorf&#x017F;chul-<lb/>
mei&#x017F;ter &#x017F;ei, der                     &#x017F;chwarz gebrannte Knoten&#x017F;tock,<lb/>
welcher neben ihm lehnte, be&#x017F;ta&#x0364;tigte die&#x017F;e                     Muth-<lb/>
maßung, aber der Kopf des Mannes wider-<lb/>
&#x017F;prach ihr ganz. So,                     dachte ich, indem ich ihn<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0045] Weilt bei ihrem kleinen Haͤuschen, laßt eurer Lin- ken nicht wiſſen, was eure Rechte giebt! die alte Mutter wird's mit Danke, mit Thraͤnen empfan- gen, und Gott wird's lohnen! Joſeph Karl. Als ich vor zwei Jahren den wuͤrdigen und ver- dienſtvollen Freiherrn Emanuel M — — von W — zu N — in Boͤhmen beſuchte, ſeine vortrefliche Oekonomie bewunderte, und in ſeinen fruchtbaren Gefilden luſtwandelte, erblickte ich mitten im freien Felde einen Mann, deſſen Phyſiognomie mich ſo- gleich anzog, und mir in jedem Falle etwas außeror- dentliches verkuͤndigte. Er ſtand im Schatten ei- nes einzelnen Birnbaums, war angelehnt an ſei- nem Stamme, hielt ein gedrucktes Blatt in ſeiner Rechten, und ſchien den Inhalt deſſelben mit gie- rigem Blicke zu verſchlingen. Sein grauer, et- was abgetragner und doch noch ſaubrer Rock, ſei- ne ſchwarze Weſte und Beinkleider ließen mich mit Grunde muthmaßen, daß er ein Dorfſchul- meiſter ſei, der ſchwarz gebrannte Knotenſtock, welcher neben ihm lehnte, beſtaͤtigte dieſe Muth- maßung, aber der Kopf des Mannes wider- ſprach ihr ganz. So, dachte ich, indem ich ihn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/45
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/45>, abgerufen am 23.11.2024.